»Das Zeitalter des magischen Zerdenkens«: Die Welt, wie sie mir gefällt
Gelassenheit und Rücksichtnahme sind in öffentlichen und auch privaten Auseinandersetzungen immer seltener anzutreffen, ob online oder offline. Fast alles wird bezweifelt, nicht selten der verschwörerischen Hintergründe bezichtigt. Und im Internet reagieren viele äußerst gereizt, wenn sie etwas ärgert – Shitstorms entstehen, Freundschaften enden.
Amanda Montell ist eine erfolgreiche Sachbuchautorin und Podcasterin aus Los Angeles, die auch für die »New York Times«, »The Guardian« und »Cosmopolitan« schreibt. In ihrem sehr persönlichen Buch analysiert sie Hintergründe dieser Probleme sowie Wege des Umgangs mit ihnen. Dabei stellt sie fest: Anstatt die Probleme rational anzugehen, neigen viele Menschen dazu, sie einseitig zu betrachten, ihnen mit Aggression zu begegnen, sie umzudefinieren oder ganz zu verdrängen. Solche Verhaltensmuster erfasst Montell mit dem klugen Begriff des »Zerdenkens«. Weil dabei diverse psychische Mechanismen eine Rolle spielen, die den Betroffenen zumeist nicht bewusst sind, erklärt Montell diese Arten des Umgangs mit Problemen zudem für »magisch«.
In ihrem Buch kann man denn auch einiges über psychologische Begrifflichkeiten lernen, zum Beispiel über den »Haloeffekt«, auch »Heiligenscheineffekt« genannt. Fans neigen dazu, ihren verehrten Stars willkürlich Eigenschaften zuzuschreiben, und sind dann bitter enttäuscht, wenn sich diese Erwartungen als falsch herausstellen. Dann sehen sich die Hochverehrten plötzlich – und bevorzugt online – mit Schimpfkanonaden konfrontiert. Aber eigentlich sind solche Fans immer schon »Stans« – das Wort setzt sich aus »Fan« und »Stalker« zusammen.
Sehr persönlich wird das Buch, wenn Montell das psychologische Konzept der »Versunkene-Kosten-Falle« anhand einer langjährigen Beziehung erläutert, die sie, obwohl sie sich in ihr unwohl fühlte, aufrechterhielt; eine toxische Beziehung, die der von Stans zum verehrten Star ähnelt, und das Irrationalste, das Montell in ihrem Leben nach eigenem Bekunden jemals betrieben hat. Aber, so die Autorin: Man neige dazu, an etwas festzuhalten, in das man viel Energie gesteckt hat, obwohl es sich längst nicht mehr lohnt. Zerdenken bedeutet dann in diesem Zusammenhang, die Sachlage zu verdrängen.
Die zerdachte Realität
Das psychologische Konzept des »Proportionality Bias« erklärt Montell folgendermaßen: »Bedeutsame Muster in einer völlig ungeordneten Welt zu entdecken, wurde zu einer einzigartigen menschlichen Stärke, aber manchmal gehen wir damit zu weit.« So werden Ereignisse von Verschwörungstheoretikern mit eigenwilligen Hintergründen versehen, die dadurch einen übertriebenen Sinn erhalten – auch dies eine Weise des magischen Zerdenkens.
Menschen halten auch häufig etwas für wahr, wenn sie Ähnliches zuvor schon mal gehört haben. Das nennt man in der Psychologie »Wahrheitseffekt«. Dazu bemerkt Montell: »Ohne dramatisch klingen zu wollen: Wiederholung ist wohl das, was einem echten Zauberspruch am nächsten kommt.« Wenn Menschen nur oft genug mit einer angeblichen Wahrheit konfrontiert werden, halten sie die entsprechende Aussage für wahr – ein weiterer Fall magischen Zerdenkens. Und wenn jemand eine solche »Wahrheit« bestreitet, begegnet man ihm häufig mit Hass, weil einem ja die guten Argumente fehlen, die für eine rationale Entgegnung notwendig wären.
Psychologisch gibt es auch das Gegenteil, das freilich auch nicht viel aufklärender wirkt, nämlich die »Rezenzillusion«: Man schenkt neuen Informationen mehr Vertrauen als denen, die man zuvor schon erhalten hat. Wenn man mit also mit Falschmeldungen unter dem Siegel vermeintlicher Aktualität überschüttet wird, hält man sie irgendwann für wahr. Und wer Probleme mit sich selbst hat, neigt dazu, sich mit anderen Themen zu befassen und so abzulenken. Montell schreibt zerknirscht: »Uns über schwarze Löcher und Lichtjahre zu informieren, hat etwas Therapeutisches für uns, die wir von sensiblen Teenagern zu Erwachsenen geworden sind, die alles zerdenken und regelmäßig daran erinnert werden müssen, wie mickrig sie eigentlich sind.«
Montell geizt in ihrem insgesamt etwas zu persönlichen Buch auch nicht mit Ratschlägen. Wer ein Problem mit dem Lebenssinn habe, solle sich handwerklich und mit Gegenständen beschäftigen – beim Kochen, Nähen oder in der Gartenarbeit; das eröffne einen Bezug zu einer erlebbaren Welt und wirke befriedigend. Vorbild dazu ist der sogenannte IKEA-Effekt. Denn Psychologen haben nachgewiesen: Baut man seine Möbel selbst zusammen, dann befriedigt das mehr, als wenn man sie sich fertig liefern lässt – »nicht unbedingt jeden«, darf, ja muss man hier einwenden!
Trotz dieser Schwächen ist das Buch empfehlenswert; allerdings weniger ob seiner Lösungsvorschläge, sondern weil es psychologische Muster erläutert, die unser Zusammenleben immer stärker prägen.
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