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»Das Alphabet der Angst«: Keine Angst vor der Angst

Katharina Domschke und Peter Zwanzger beleuchten kulturelle und biologische Hintergründe der Angst. Sie wird so zu einem faszinierenden Aspekt menschlichen Lebens.

»Angst duckt sich durchsichtig«, lautet eine Zeile aus einer Arbeit der Künstlerin Loredana Nemes. Sie ist dem Buch von Katharina Domschke und Peter Zwanzger als Inspiration vorangestellt. Domschke und Zwanzger – beide international anerkannte Experten auf dem Gebiet der Angsterkrankungen – präsentieren 200 Fakten rund um das urmenschliche Gefühl der Angst. Sie beleuchten diese Emotion, die wie in Nemes‘ Worten oft schwer greifbar scheint, aus unterschiedlichen Perspektiven und verleihen ihr viele Gesichter: von der Agoraphobie bis hin zur Todesangst, die ein wenig die große Schwester jeder Angst sei.

Aspekte wie »Adrenalin«, »Resilienz«, »Geschlecht« und »vegetatives Nervensystem« sowie deren Rolle für unsere Ängstlichkeit erklärt das Autorenduo aus biologischer Perspektive. Gleichzeitig gehen Domschke und Zwanzger vielen Methoden zur Überwindung von Angst auf den Grund. Alltägliche Phänomene wie »Lachen« erhalten ebenfalls ihren alphabetischen Eintrag. Und auch auf einer kulturellen Ebene wird Angst reflektiert. So werden kulturell geprägte Krankheitsbilder vorgestellt wie das »Khyâl cap«: eine Störung, die vor allem in Kambodscha beschrieben wird und sogenannte Windattacken im Körper bezeichnet, deren Symptome mit denen von Panikattacken vergleichbar sind. Auch die Perspektive der Kunst auf Angst findet sich beispielhaft im Buch. Das Autorenduo zitiert alte römische Gedichte und Auszüge aus Luthers Bibelübersetzung, ebenso moderne Lieder, Romane und Filme, in denen es um Angst geht.

Auch der Herkunft von Worten rund um das Thema Angst gehen Domschke und Zwanzger nach. In ihrem Kapitel über »Torschlusspanik« erklären sie beispielsweise, dass dieses Phänomen aus einer Zeit stammt, in der man sich vor dem nächtlichen Schließen der Tore in den Schutz der Stadtmauern zurückziehen musste. Schließlich werden auch jüngere Begriffe wie »Klimaangst«, oder »FOMO« (»Fear of missing out«) betrachtet. Angst wird so in biologischer, soziologischer, theologischer und kunstgeschichtlicher Dimension greifbar. Als Leser wird einem dadurch bewusst, wie tief verwurzelt sie nicht nur in der menschlichen Psyche, sondern auf allen Ebenen der Menschheitsgeschichte ist.

Faszination Angst

Durch seine alphabetische Gliederung lässt sich das Buch wie ein Nachschlagewerk nutzen, in dem man je nach Interesse springen kann. Wer es von vorn bis hinten durcharbeitet, erkennt zusätzlich die vielfältigen Verbindungen zwischen den Begriffen. Sie sind durch kleine Pfeile im Text gekennzeichnet, die jeweils auf andere Kapitel verweisen. Dies kann einen anfangs etwas verwirren, man gewöhnt sich aber an dieses System, sobald man es durchschaut hat. Es spinnt gleichsam ein »großes Netz der Angst« – das einen aber nicht einengt, wie es die Angst selbst tut, deren Etymologie auf »angustia« verweist (lateinisch für »die Enge«).

Im Gegenteil wird die Angst bei der Lektüre dieses Buchs von etwas Bedrohlichem zu einem Faszinosum, über das man immer mehr wissen will, je tiefer man in das Begriffsnetzwerk eintaucht. Dabei wird klar: Angst hat positive wie negative Seiten. Sie erweist sich evolutionär als Überlebensvorteil, ist notwendige Voraussetzung für den Mut zur Veränderung, wird in der Kunst zur Quelle der Inspiration oder zum lustvollen Nervenkitzel; gleichzeitig kann Angst zum Machtinstrument werden und in ihren pathologischen Ausprägungen der Freiheit und Lebendigkeit eines Menschen im Weg stehen.

Pathologisch sind natürlich die Angststörungen. Domschke und Zwanzger beweisen ein großes Verantwortungsgefühl gerade gegenüber Menschen, die unter diesen Störungen leiden. Denn auch wenn sich ihr Buch schon rein sprachlich eher an ein Fachpublikum zu richten scheint, zitiert es immer wieder hilfreiche Quellen für von Angst Betroffene – etwa den Link zur Website der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, wenn man gerade einen Therapieplatz sucht. Die Behandlungsempfehlungen des Autorenduos orientieren sich zudem an hohen wissenschaftlichen Standards. Am häufigsten verweisen Domschke und Zwanzger auf die Verhaltenstherapie und ihre Methode der Exposition, die als gut evaluierte Strategie gegen den Teufelskreis der Angst gilt. Auch geprüfte medikamentöse Behandlungsmethoden werden erwähnt. Für einige weitere Verfahren, die noch nicht in den einschlägigen Leitlinien empfohlen werden, zeigen sich Domschke und Zwanzger offen; sie werden als interessante neue Wege aus der Angst vorgestellt, die es noch genauer zu erforschen gilt – zum Beispiel Kunsttherapie, tiergestützte Behandlungen oder Neurostimulation.

»Das Alphabet der Angst« klärt seine Leser auf, konfrontiert sie – ganz im Sinne der Expositionstherapie – mit den vielen Facetten unserer Ängste und kann zugleich Angstlust und Forschungslust wecken.

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