»Armstrongs Erben«: Die Claims auf dem Mond werden abgesteckt
In absehbarer Zeit wird der Mond unser achter Kontinent sein. Auf ihm gibt es überaus exotische Bodenschätze, er ist für viele wissenschaftliche Aktivitäten der perfekte Ort, und er ist eine realistische Trainingsbasis für bemannte Flüge ins tiefere Sonnensystem. Was auf dem ersten, dem alten Kontinent noch vielfach als unrealistische Spinnerei abgetan wird, geht in den USA, in China, in Japan und in Indien längst von der PowerPoint- in die Hardware-Phase über. In diesen Jahren werden dort die Claims für die kommenden Generationen abgesteckt.
Das in etwa ist die Ausgangssituation, bei der Christoph Seidler mit seinem Buch ansetzt und von der aus er seine Leser in eine nicht allzu ferne Zukunft entführt. Um den dafür nötigen Background zu vermitteln, beginnt das Werk mit einem Schnelldurchgang durch die Mondflüge mit Robotsonden und bemannten Raumfahrzeugen – beginnend 1959 mit Luna 2 bis hinein in die Gegenwart.
Dieser raumfahrtgeschichtliche Teil ist gut, präzise und zugleich in lockerem Stil geschrieben. Nur selten finden sich wirkliche Fehler; so war die sowjetische N1-Rakete der US-amerikanischen Saturn V keineswegs ebenbürtig, wie der Autor behauptet, und die Überlebenswahrscheinlichkeit der Apollo-11-Mission lag nicht bei 50, sondern bei 90 Prozent. Dann gibt es hier und da kleinere Ungenauigkeiten, die eher dem gelegentlich etwas flapsigen Erzählstil geschuldet sind. Mir wäre es zum Beispiel nie eingefallen, die Mercury-Kapsel des ersten bemannten US-Raumfahrtprogramms als »aus Aluminium und Fiberglas bestehend« zu beschreiben; bei einem Auto würde man ja auch nicht sagen, dass es »aus Gummi und Velours zusammengesetzt« ist, obwohl beide Materialien hier tatsächlich verbaut werden. Den Auftrag für die ersten Einheiten des europäischen Servicemoduls des Orion-Raumschiffs haben die Europäer auch nicht deswegen bekommen, weil sie einen besseren Preis als die amerikanischen Unternehmen angeboten hätten, sondern weil hier ein sogenanntes Barter-Agreement über einen Leistungsaustausch zwischen NASA und ESA zur Anwendung kommen konnte. Und an bestimmt 20 Stellen »wirbelt« bei Seidler Staub auf dem Mond herum. Was aber nicht der Fall ist, denn auf dem Mond »wirbelt« mangels Atmosphäre gar nichts.
Aber inhaltlich geht das meiste in Ordnung, die kleineren Ungenauigkeiten stören nicht weiter. Das gilt allerdings nicht für die Passagen, in denen der Autor seine politische und ideelle Gemütslage für meinen Geschmack etwas zu demonstrativ herausputzt. Sie tragen wenig zum Erkenntnisgewinn bei und stehen dem ansonsten wirklich guten Lesefluss im Wege. Trotz des »Schnelldurchgangs« im Background-Teil nimmt sich Seidler hier über mehrere Seiten Raum, um sich über den Rassismus der NASA der 1960er Jahre auszubreiten, in denen man sich dem Autor zufolge nach Kräften anstrengte, »People of Colour« Steine in den Weg zu legen, farbige Astronautenanwärter möglichst aus dem Elite-Corps herauszuhalten und nur »Whities on the moon« zuzulassen, wie eine der Kapitelüberschriften lautet. Als Quellen führt der Autor zweimal den »Spiegel« und einmal die »New York Times« an. Da hätte er vielleicht besser die Autobiografie (»Deke«) von Donald K. »Deke« Slayton zu Rate gezogen, dem damaligen Chefastronauten der NASA, in der die Sachverhalte doch deutlich anders dargestellt werden.
Inhaltlich gut, sprachlich mit Eigenheiten
Überhaupt die Quellenangaben. 37 Seiten sind viel zu viel für ein Werk ohne wissenschaftlichen Anspruch; zumal der Autor hier oft sich selbst zitiert, außerdem eher populäre Medien als wissenschaftliche Publikationen sowie Bulletins von Raumfahrtorganisationen wie ESA, CNES und NASA anführt – Quellen wie diese dienen kaum dem Ausweis von Objektivität.
Was zumindest mein Lektüreerlebnis zusätzlich beeinträchtigt hat, ist die überaus häufige Verwendung geschlechtergerechter Paarformeln (»Ingenieurinnen und Ingenieure«, »Raumfahrerinnen und Raumfahrer«, »Astronautinnen und Astronauten«) sowie die stellenweise sehr dichte Folge von »inklusiven« Partizipien (»Forschende«, »Studierende«). Wie man eine angemessene Würdigung aller Beteiligten erreichen kann, ohne ihr den eigenen Stil zu opfern, zeigt das Buch übrigens an anderer Stelle: in dem sehr lesenswerten, interessanten und sieben (!) Seiten langen Vorwort des deutschen Astronauten Matthias Maurer.
Wenn man von den punktuellen Überlagerungen der inhaltlichen Substanz durch die Selbstdarstellung des Autors und zeitgeistige grammatikalische Konstrukte absieht – die, das sei ausdrücklich eingeräumt, andere Leser als vertretbar oder gar angemessen empfinden mögen –, ist »Armstrongs Erben« ein wirklich gutes Sachbuch. Das Thema wird erschöpfend behandelt. Seidler ist fachlich beschlagen, sein Erzählstil ist erfrischend flott, und der Schwierigkeitsgrad der Darstellung ist so gewählt, dass ein breites Publikum von der Lektüre profitieren kann. Der Autor verwebt gekonnt politische, juristische und technische Aspekte von Mondexpeditionen und nimmt den Leser mit in eine Zukunft, welche die meisten von uns noch selbst miterleben könnten. 22 Euro sind zudem ein guter Preis für ein gutes Buch, dessen von mir benannte Schwächen so mancher gar für weitere seiner Stärken halten mag.
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