Hirnentwicklung: Geburt des Bewusstseins

Jeffrey Lawson kam im Februar 1985 als Frühchen zur Welt und musste kurz darauf am Herzen operiert werden. Dabei blieb er während des gesamten Eingriffs wach. Die Anästhesistin hatte ihm nur Pavulon verabreicht, ein Muskelrelaxans, damit der Kleine sich nicht bewegen konnte. Fünf Wochen später starb Jeffrey. Erst jetzt erfuhr seine Mutter die Wahrheit über die Operation. Jeffrey sei zu jung gewesen, um eine Narkose zu verkraften, erklärten ihr die Ärzte. Außerdem gebe es keine Belege dafür, dass Frühgeborene Schmerz empfänden.
So unglaublich es auch klingt: Bis in die 1980er Jahre wurden chirurgische Eingriffe an Säuglingen routinemäßig ohne oder nur unter geringer Narkose durchgeführt. Selbst eindeutige Abwehrreaktionen auf schmerzhafte Reize galten bloß als Reflexe. Doch 20 Jahre nach Jeffreys Operation fanden Forscher um den Neonatologen Marco Bartocci vom schwedischen Karolinska-Institut Indizien dafür, dass das Gehirn neugeborener Frühchen ganz ähnlich auf Schmerzreize reagiert wie das von Erwachsenen. Genauer gesagt beobachteten sie eine erhöhte Sauerstoffversorgung in Teilen der Großhirnrinde, die mit bewusstem Erleben in Verbindung stehen. Dieser Beleg für verstärkte neuronale Aktivität könnte darauf hinweisen, dass auch Frühgeborene sehr wohl Schmerzen spüren.
Dennoch ist bis heute strittig, ob und was Säuglinge bewusst erleben und erst recht, ob Föten – also ungeborene Kinder im Mutterleib – schon dazu in der Lage sind. Die Frage ist knifflig, denn was Bewusstsein genau ist, stellt immer noch eines der großen Rätsel der Wissenschaft dar. Verschiedene philosophische, psychologische und neurobiologische Modelle versuchen zu erklären, was dem zu Grunde liegt.
Ab wann nimmt ein Mensch die Welt bewusst wahr?
Einflussreiche Ansätze sind die »higher order theories of consciousness«, die »Theorien höherer Ordnung«. Demnach wird ein mentaler Zustand dann bewusst, wenn ein Gedanke auf diesen Zustand gerichtet ist oder ihn beinhaltet. Wenn man zum Beispiel denkt »Ich sehe einen roten Apfel«, wäre einem diese Empfindung bewusst, weil man einen Gedanken höherer Ordnung hat, der sie repräsentiert. Gemäß dieser Annahme entsteht Bewusstsein erst im Lauf der Kindheit, da es höhere Denkvorgänge voraussetzt.
»Die Antwort auf die Frage, ab wann Kinder Bewusstsein besitzen, hängt davon ab, was genau man unter Bewusstsein versteht«Norbert Zmyj, Entwicklungspsychologe
Das mag für komplexere Formen mentaler Zustände wie Ich-Bewusstsein gelten, heißt aber nicht zwangsläufig, dass die Kleinsten zu keiner bewussten Empfindung fähig wären. »Die Antwort auf die Frage, ab wann Kinder Bewusstsein besitzen, hängt davon ab, was genau man unter Bewusstsein versteht«, erklärt der Entwicklungspsychologe Norbert Zmyj von der Technischen Universität Dortmund. Das Aufkommen des Ich-Bewusstseins legt man um den 18. Lebensmonat herum an. Ungefähr ab diesem Alter erkennen Kinder sich selbst im Spiegel. Malt man unbemerkt einen Farbtupfer auf die Wange eines Kleinkindes und setzt es vor einen Spiegel, fassen sich die meisten Anderthalbjährigen an die betreffende Stelle oder weisen andere, etwa die Eltern, darauf hin, dass sie etwas im Gesicht haben. »Offenbar haben die Kinder eine Vorstellung von sich und gleichen diese mit dem Spiegelbild ab«, sagt Zmyj. »Jüngere Kinder betrachten ihr Spiegelbild dagegen als Spielpartner oder berühren den Fleck im Spiegel statt in ihrem Gesicht.«
Dass komplexere Formen von Bewusstsein erst nach und nach entstehen, sagt auch die Neurowissenschaftlerin Julia Moser von der University of Minnesota. Anders sei es bei basaleren Formen. Mosers Team veröffentlichte in einer Übersichtsarbeit von 2023 Belege dafür, dass Säuglinge bereits in den ersten Lebensmonaten, wenn nicht sogar von Geburt an, bewusst erleben. Möglicherweise gelte das auch schon für das letzte Schwangerschaftstrimester, also für gut 25 Wochen alte Föten.
Für Moser ist ein Organismus dann bewusst, wenn er eine subjektive Perspektive einnimmt. Verschiedene Bewusstseinszustände unterscheiden sich demnach durch die Art und Weise, wie es sich anfühlt, in ihnen zu stecken: Das subjektive Empfinden, ein Gesicht zu sehen, ist ein anderes als das, ein Lied zu hören oder Schmerz zu empfinden. Hier geht um »primäres« (Wahrnehmungs-)Bewusstsein. Legt man ein solches Konzept zu Grunde, deutet einiges auf eine frühere Entstehung des Bewusstseins hin. Da man Säuglinge nicht befragen kann, sind Forscher darauf angewiesen, ihr Verhalten zu beobachten. Und bereits Neugeborene fixieren Gesichter, können die Stimme ihrer Mutter von fremden unterscheiden und reagieren auf Schmerzreize – etwa indem sie das Gesicht verziehen.
Ein Lächeln ist noch kein Beweis für Bewusstsein
Die Stimme der Mutter von der einer fremden Frau zu unterscheiden, gelinge nur, wenn sie zuvor gelernt wurde, so Moser. Die Fähigkeit von Säuglingen, auf solche feinen Unterschiede in ihrer Umgebung zu reagieren, könne man als Zeichen von basalem Bewusstsein betrachten. Eine Mutter, die von ihrem Baby angelächelt wird, zweifelt sicher nicht daran, dass ihr Kleines über bewusstes Empfinden verfügt. Doch so einfach ist es aus wissenschaftlicher Sicht nicht. Denn dabei könnte es sich auch um die vollkommen unbewusste Spiegelung der Mimik der Mutter handeln. Und auch Wahrnehmung allein ist nicht zwangsläufig an Bewusstsein gebunden, wie das Phänomen des »Blindsehens« beweist: Betroffene sind auf Grund einer Schädigung der primären Sehrinde, eines Teils des visuellen Systems im Gehirn, eigentlich blind. Fragt man sie, ob sie einen Gegenstand in ihrem Gesichtsfeld erkennen, antworten sie entsprechend mit nein. Wenn man sie auffordert zu raten, wo sich der betreffende Gegenstand befindet, können sie allerdings in vielen Fällen danach greifen oder zumindest in die richtige Richtung zeigen. Das Gehirn verarbeitet also immer noch unbewusst visuelle Reize, obwohl die Person nicht den Eindruck hat, etwas zu sehen.
Wenn Neurowissenschaftler herausfinden wollen, ob Reize bewusst oder unbewusst verarbeitet werden, manipulieren sie gern deren Sichtbarkeit. In einem typischen Versuchsaufbau wird Probanden ganz kurz ein Bild gezeigt und kurz darauf ein zweites. Bild zwei »verdeckt« dann in der Wahrnehmung Bild eins. In den ersten 200 bis 300 Millisekunden der visuellen Verarbeitung treten jedoch sehr wohl Reaktionen in sensorischen Hirnarealen auf, auch wenn die Person Bild eins nicht bewusst sieht. Erst wenn ein Motiv ausreichend lange angezeigt wird, nehmen wir es auch richtig wahr. Das geht mit einer synchronisierten, weit verteilten Hirnantwort im Frontal- und Scheitellappen nach gut 300 Millisekunden einher. Dieser späte Peak im elektrischen Potenzial, auch P300-Welle genannt, gilt als recht sicheres Indiz für eine bewusste Wahrnehmung.
Ein Team um den Neurowissenschaftler Sid Kouider, heute an der Ecole normale supérieure in Paris, hat nach solchen Mustern bei Säuglingen gesucht. Mit EEG-Kappen registrierten die Forscher Schwankungen der elektrischen Hirnaktivität bei 80 Kindern im Alter von 5, 12 sowie 15 Monaten. Die kleinen Probanden sahen auf einem Bildschirm Gesichter, und zwar unterschiedlich lang. Außerdem waren die Konterfeis in andere Muster eingebettet, um die Sichtbarkeit zu erschweren. Bei Kindern ab einem Jahr verzeichneten Kouider und seine Kollegen im EEG eine langsame Hirnwelle. Sie ähnelte der späten Hirnantwort bei Erwachsenen, trat aber noch etwas weiter versetzt auf. Bei den fünf Monate alten Babys fand sich auch eine solche langsame Welle. Allerdings war sie schwächer ausgeprägt und erschien nochmals später als bei den älteren Säuglingen. Die Schlussfolgerung der Forscher: Diese Welle zeigt bei den Kleinen ähnlich wie bei Erwachsenen bewusste Wahrnehmung an. Demnach hätten Säuglinge ab etwa fünf Monaten bewusste Seheindrücke.
Doch es gibt auch Hinweise auf ein noch früheres Auftreten von Bewusstsein – und zwar, wenn man einen Schaltkreis im Gehirn betrachtet, den Forscher als Ruhenetzwerk (default mode network) bezeichnen. Er umfasst eine Reihe von Hirnregionen, die aktiv werden, wenn man sich mit gar nichts beschäftigt. Wenn also keine Aufgabe ansteht und man sich dem freien Fluss der Gedanken hingeben kann. Dazu gehören etwa der mediale präfrontale Kortex und der Praecuneus. Ein anderes Netzwerk, das frontale und parietale Areale umfasst, erleichtert die Aufmerksamkeit für äußere Reize. Deswegen heißt es auch Aufmerksamkeitsnetzwerk.
Das Ruhe- und das Aufmerksamkeitsnetzwerk stimmen ihre Aktivität aufeinander ab und ergänzen sich. Wenn ersteres rege wird, fährt das zweitere herunter und umgekehrt. Vermutlich fördert diese komplementäre Beziehung der Netzwerke die Verknüpfung von Informationen über weit verteilte Areale und ermöglicht so Bewusstsein. Der einflussreichen Theorie eines globalen Arbeitsraums (global workspace theory) zufolge erfordert Bewusstsein genau das – nämlich, dass Informationen aus verschiedenen, aber miteinander verbundenen Hirnarealen verknüpft werden.
Bezeichnenderweise funktionieren diese Netzwerke bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen nicht oder nicht vollständig. Das gilt zum Beispiel für Menschen im Wachkoma. Sie sind zwar wach, zeigen aber keine Anzeichen von bewusster Wahrnehmung, weil das Großhirn geschädigt ist. Bei Patienten mit minimalem Bewusstsein hingegen sind das Ruhe- und das Aufmerksamkeitsnetzwerk teilweise intakt. Sie können Augenkontakt herstellen und ihre Umgebung bewusst wahrnehmen.
Forscher um die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Lorina Naci vom Trinity College Dublin gingen der Frage nach, ob diese Schaltkreise schon bei Neugeborenen vorhanden sind. In einer 2022 erschienenen Studie werteten sie funktionelle Magnetresonanztomografie-Aufnahmen (fMRT) von Neugeborenen aus (siehe »Blick ins Babyhirn«). Dabei hatten sie die spontane Hirnaktivität der Säuglinge im Ruhezustand gemessen. Der frisch geborene Nachwuchs musste also weder etwas Besonderes tun noch bekam er irgendwelche Reize präsentiert. So konnten die Wissenschaftler die neuronale Kommunikation verschiedener Hirnareale erfassen.
Wie sich zeigte, war der Zusammenhalt innerhalb der Netzwerke bei Neugeborenen zwar schwächer ausgeprägt als bei Erwachsenen, doch Ruhe- und Aufmerksamkeitsnetzwerk waren in ihrer entgegengesetzten Funktion schon vorhanden. Die Schlussfolgerung: Das Gehirn von Säuglingen ermöglicht bereits die Integration von Informationen aus verschiedenen Arealen. Eine US-amerikanische Studie legt sogar nahe, dass das Ruhenetzwerk bereits bei 35 Wochen alten Föten in groben Zügen vorhanden ist. Das fanden die Forscher mit einer Form der fMRT heraus, mit der sich die Hirnaktivität von Föten im Mutterleib messen lässt (siehe »Blick ins Babyhirn«).
Julia Moser erklärt: »Neuronale Netzwerkmuster, die bei Erwachsenen mit Bewusstsein einhergehen, existieren auch bei Säuglingen und Föten in den letzten Schwangerschaftswochen. Das heißt aber nicht, dass diese Netzwerke zwangsläufig genau die gleiche Funktion erfüllen.« Doch es sei ein starker Hinweis darauf, dass die Kapazität für bewusste Verarbeitung existiere. Und Moser hat noch weitere Anzeichen für Bewusstsein bei Babys im Uterus gefunden. Sie und ihr Team stellten in einer 2021 veröffentlichten Studie das Gedächtnis von Föten auf die Probe. Mit einer Methode namens fetale Magnetenzephalografie (siehe »Blick ins Babyhirn«) maßen sie die Hirnaktivität von 56 gesunden Föten zwischen der 25. und 40. Schwangerschaftswoche über Sensoren an der Bauchdecke der Mutter.
Blick ins Babyhirn
Magnetenzephalografie (MEG)
Die fetale Magnetenzephalografie misst die Hirnaktivität von Babys im Bauch der Mutter über Magnetfelder, die durch elektrische Ströme im Gehirn entstehen. Dafür verwendet man hochempfindliche Sensoren. Sie sind in der Lage, schwache magnetische Signale zu erfassen, die vom sich entwickelnden Gehirn des Fötus ausgehen. Die Sensoren sind unter einer Art Schale angebracht, die an den Bauch der Mutter angepasst wird. Mit dem gleichen Gerät lässt sich auch die Hirnaktivität Neugeborener untersuchen. Dafür platziert man den Kopf des Babys in der Schale.
Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)
Die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) ermöglicht die Messung von Hirnaktivität, indem sie Veränderungen im Sauerstoffgehalt des Bluts erfasst. Aktive Hirnareale benötigen mehr Sauerstoff, was sich in einer veränderten magnetischen Eigenschaft des Bluts zeigt. Diese Methode bietet eine hohe räumliche Auflösung und wird oft eingesetzt, um Zusammenhänge zwischen bestimmten Hirnregionen und kognitiven Prozessen zu untersuchen. Ähnlich wie die Magnetenzephalografie erlaubt die Magnetresonanztomografie den Blick ins Babyhirn bereits im Mutterleib.
Elektroenzephalografie (EEG)
Mit der EEG misst man die elektrische Aktivität des Gehirns. Elektroden direkt auf der Kopfhaut erfassen Spannungsänderungen, die durch neuronale Aktivität entstehen. Diese elektrischen Signale werden verstärkt und als Wellenmuster dargestellt, welche Rückschlüsse auf verschiedene Gehirnzustände erlauben. Eine spezielle Anwendung der Elektroenzephalografie ist die Untersuchung ereigniskorrelierter Potenziale (EKP). Dabei handelt es sich um charakteristische Veränderungen der Hirnaktivität, die in Reaktion auf bestimmte Sinnesreize oder kognitive Prozesse auftreten. EKP ermöglichen es, zeitlich sehr genau zu erfassen, wie das Gehirn auf äußere Reize reagiert, beispielsweise beim Hören eines Tons.
Schon ein Fötus kann wahrscheinlich bewusst hören
Ziel war es, herauszufinden, ob Föten Regelmäßigkeiten lernen, sich diese merken können und auf unerwartete Verstöße gegen diese Regeln reagieren. Denn nach aktuellem Forschungsstand sind frühe Formen des Bewusstseins eng mit dem Gedächtnis verknüpft. Dafür spielten Moser und ihre Kollegen den Babys im Bauch der Mutter eine Reihe von Tönen vor. Manche der Töne waren überraschender als andere: Die erste Art von Regelverstoß spielte sich innerhalb einer Tonfolge ab: wenn etwa dreimal hintereinander Ton A erklang, danach aber Ton B. Die zweite Art Regelverletzung erfolgte über mehrere Tonfolgen hinweg. Beispielsweise präsentierten die Forscher in Trainingsphasen mehrmals hintereinander die Tonfolge AAAB. In der Testphase folgte dann aber hin und wieder die Abfolge AAAA. Für Rückschlüsse auf das Bewusstsein ist vor allem die zweite Art des Regelverstoßes interessant, weil sich die Föten die Tonabfolgen über einen längeren Zeithorizont merken mussten, um ihn erkennen zu können.
Das Forscherteam verglich die Hirnaktivität der Föten bei Tonfolgen, die die Regeln verletzten, mit der bei Tonfolgen, die den Regeln entsprachen. Bei Erwachsenen zeigt sich im EEG bei der zweiten Art von Regelverstoß eine markante Hirnantwort: die bereits beschriebene P300-Welle. Sie tritt auch bei Patienten mit minimalem Bewusstsein auf, sofern diese noch über hinreichende bewusste Wahrnehmungen verfügen. Bei Patienten, die nicht mehr bewusst wahrnehmen, bleibt sie hingegen aus. Das Signal gilt also bei Erwachsenen als Beleg dafür, dass eine Regelverletzung erkannt und der Regelverstoß bewusst verarbeitet wurde.
Julia Moser und ihr Team beobachteten per Magnetenzephalografie eine stärkere Schwankung der Hirnaktivität der Föten, wenn es zu einem Regelverstoß kam. Das deuten sie als Zeichen dafür, dass die Babys im Mutterleib den Verstoß bemerken. Diese Fähigkeit entwickelt sich offenbar im letzten Schwangerschaftstrimester, da sie nur bei Föten jenseits der 35. Schwangerschaftswoche zu verzeichnen war. »Das Lernen dieser Tonmuster ist ein Hinweis auf eine bewusste Verarbeitung dieser Reize«, sagt Moser. »Denn es erfordert, die vorhergehenden Töne lang genug in Erinnerung zu behalten.« Befunde von Wissenschaftlern um Franziska Schleger von der Universität Tübingen, wo Julia Moser zuvor tätig war, deuten in eine ähnliche Richtung. Sie sahen anhand der Hirnaktivität Indizien dafür, dass Neugeborene und Föten merken, wenn sich die Anzahl abgespielter Töne ändert.
Die anatomische Grenze
Zumindest für ein basales Bewusstsein mehren sich also die Hinweise darauf, dass es sehr zeitig in der Entwicklung eines Menschen auftritt. Nach und nach haben Forscher seine Entstehung immer früher datiert. Doch es gibt eine anatomische Grenze, vor der Bewusstsein mit ziemlicher Sicherheit nicht entstehen kann. Denn das Bewusstsein kann überhaupt erst erwachen, wenn Verbindungen zwischen Thalamus und Großhirnrinde bestehen. Darauf wies Hugo Lagercrantz, inzwischen emeritierter Professor für Pädiatrie am Karolinska-Institut, 2020 in einer Übersichtsarbeit hin. Der Thalamus fungiert als Schaltzentrale und leitet sensorische Signale an verschiedene Bereiche der Großhirnrinde weiter. Die entsprechenden Nervenfaserverbindungen entstehen um die 24. Schwangerschaftswoche. Ab dann, so Lagercrantz, sei Bewusstsein also erstmals zumindest möglich.
Allerdings gibt er zu bedenken: »Ich bin nicht sicher, ob ein Fötus wirklich schon Bewusstsein hat. Die meiste Zeit schläft er, auch wenn er auf Schmerz, Berührung und die Stimme der Mutter reagiert.« Nach der Geburt sähe das anders aus: Dann könne das Neugeborene die Eltern imitieren, reagiere auf menschliche Gespräche stärker als auf andere Geräusche und zeige damit Anzeichen von minimalem Bewusstsein. In einem sind sich Hugo Lagercrantz und Julia Moser jedoch einig: Bewusstsein entsteht nicht von einem Moment auf den anderen, sondern allmählich. Das passt laut Moser gut zur stufenweisen Entwicklung in anderen Bereichen – wie zum Beispiel beim Gedächtnis. »Die meisten Fähigkeiten wachsen graduell. Auch solche, die wenig mit Kognition zu tun haben, wie die Fähigkeit, präzise zu sehen oder Muskeln zu kontrollieren.« Die Neurowissenschaftlerin hält es für nicht plausibel, dass ausgerechnet das Bewusstsein eines Menschen hier eine Ausnahme bildet und auf einen Schlag erwacht – so rätselhaft es auch bleibt.
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