Direkt zum Inhalt

Sicherheits- und Verteidigungsforschung: Zeitenwende in der Wissenschaft

Die Landesverteidigung soll besser werden. Das erfordert auch mehr Forschung – für Waffensysteme, Aufklärung oder den Schutz kritischer Infrastrukturen. Sollen sich Hochschulen und Forschungszentren daran beteiligen?
Silhouette einer militärischen Radaranlage bei Sonnenuntergang. Im Vordergrund ist ein Lastwagen zu sehen, umgeben von mehreren großen Radarantennen. Die Antennen sind auf Plattformen montiert und zeigen in verschiedene Richtungen. Der Himmel im Hintergrund ist in Gelb- und Orangetönen gefärbt.
Eigentlich haben viele Hochschulen der militärischen Forschung abgeschworen. Doch seit Beginn des Kriegs in der Ukraine steht die Zivilklausel zur Debatte.

Ist Deutschland verteidigungsfähig? Viele Menschen treibt diese Frage seit dem Beginn des Ukrainekriegs um – und das umso mehr, seit auch das transatlantische Verhältnis nicht mehr ungetrübt ist. Deutschland, so die vorherrschende Meinung, braucht eine gut ausgerüstete Verteidigungsarmee. Dazu gehören moderne Waffensysteme und Aufklärungstechnologien. Die zu entwickeln bedarf allerdings intensiver Forschung. Strittig ist, wer diese übernehmen soll: die Hersteller? Oder auch Forschungseinrichtungen und Hochschulen, die mit öffentlichem Geld finanziert werden?

In der Debatte geht es um Verantwortung – für das Land und für den Frieden –, um die unrühmliche Rolle deutscher Hochschulen während des Nationalsozialismus und um reale und gefühlte Bedrohungen. Und nicht zuletzt geht es auch um Drittmittel, die aus den absehbaren Milliardeninvestitionen aus dem Finanzpaket möglich sind, während die üblichen Forschungsbudgets erheblich unter Druck stehen.

Laut der Initiative »Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel« haben mehr als 70 Universitäten und Hochschulen einen Passus in ihrer Satzung, der Forschungen für militärische Zwecke ausschließt. Ob die Zivilklausel revidiert gehört und welche Forschungsarbeiten konkret abzulehnen oder zu erlauben sind, darüber wird vielerorts debattiert – auch in außeruniversitären Forschungszentren wie dem Deutschen Elektronensynchrotron (DESY) in Hamburg. Es betreibt eine Röntgenlichtquelle, die sich sehr gut für Materialanalysen eignet. Nutzeranfragen, die dem Militär dienen könnten, hat das Zentrum bislang abgelehnt. Im Sommer 2024 äußerte das Direktorium jedoch Überlegungen, ob das noch zeitgemäß sei.

Bei den Mitarbeitenden gibt es sowohl Zustimmung als auch Widerspruch. Eine im Juni 2024 gegründete Gruppe namens Science4Peace@DESY fordert in einem Aufruf »die Intensivierung der zivilen und friedensbildenden Forschung, anstatt zivile Einrichtungen für die militärische Forschung zu öffnen«. Mehr als 300 Personen und damit rund ein Zehntel der Belegschaft des DESY hätten schnell unterschrieben, berichtet Hannes Jung von der Aktionsgruppe. »Manche haben nicht gezeichnet, weil sie arbeitsrechtliche Konsequenzen fürchteten.« Inzwischen steht der Appell online. Zu den mehr als 1000 Unterstützern zählen der Physik-Nobelpreisträger Giorgio Parisi, der Allgemeine Studierendenausschuss der Universität Hamburg sowie der Landesverband der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

»Ich befürchte Einschränkungen, wenn hier an militärischen Projekten gearbeitet wird«Hannes Jung, Experimentalphysiker

Jung verweist auf die Gründung des DESY 1959 und damit auf eine Zeit, in der »noch nicht an Militärforschung zu denken war«. Über Jahrzehnte habe es hier eine offene und verbindende Atmosphäre gegeben: über den Eisernen Vorhang hinweg und auch in jüngerer Vergangenheit mit Kolleginnen und Kollegen aus Russland und China. »Ich befürchte Einschränkungen, wenn hier an militärischen Projekten gearbeitet wird«, sagt er. »Das betrifft den Zugang zu den Forschungsanlagen, den Zugang zu den Ergebnissen, und es widerspricht letztlich dem Charakter der universellen Grundlagenforschung.« Obendrein sieht Jung die internationale Ausrichtung gefährdet, zumindest in Richtung solcher Nationen, bei denen es politische Vorbehalte gibt, wie gegen China, Russland oder den Iran.

Das Konzept »offener Campus« ist gefährdet

Damit wären gerade auch die Hochschulen konfrontiert. Sie wollen Studentinnen und Studenten aus verschiedenen Ländern gewinnen und sich mit ihren Campussen und Veranstaltungen offen geben, um den Vorwurf der Wissenschaft im Elfenbeinturm zu entkräften. Forschungen für Sicherheit und Verteidigung allerdings sind sensibel. Je nach Art des Vorhabens müssen der Zugang für ausgewählte Räumlichkeiten beschränkt und Projektbeteiligte einer Sicherheitsprüfung unterzogen werden. Das kann bedeuten, dass bestimmte Nationalitäten von der Mitarbeit ausgeschlossen sind. Und selbst jene, die involviert sind, dürfen womöglich bestimmte Länder nicht mehr bereisen, auch nicht privat.

»Es ist fraglich, ob Militärforschung gerade an Instituten wie am DESY sein muss, die bisher ausdrücklich auf zivile und friedliche Forschung und auf internationalen Austausch fokussiert waren«, sagt Hannes Jung. Er möchte, dass das Hamburger Zentrum weiter für wissenschaftlichen Dialog und gewaltfreie Konfliktvermeidung steht. Und er warnt davor, die Folgen eines vermeintlich leichten Drittmittelgewinns zu unterschätzen. »Wenn man das Geld nimmt, macht man sich natürlich stärker abhängig«, sagt er. »Es wird versucht werden, Einfluss auf die Verwendung und die Ausrichtung eines Labors zu nehmen.«

»Wir sehen gerade, wie wichtig es ist, sich verteidigen zu können, wenn man als Land angegriffen wird«Beate Heinemann, Vorsitzende des DESY-Direktoriums

Das DESY musste zuletzt bereits Stellen abbauen, vor allem wegen der hohen Inflation und steigender Personalkosten. Mögliche Drittmittel aus der sicherheitsrelevanten Forschung spielten bei den gegenwärtigen Überlegungen aber keine besondere Rolle, sagt Beate Heinemann, seit April 2025 Vorsitzende des Direktoriums. Die Motivation sei eine andere: »Wir sehen gerade, wie wichtig es ist, sich verteidigen zu können, wenn man als Land angegriffen wird.« Für das DESY als nationales Forschungszentrum sei es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, inwieweit es insbesondere mit seinen exzellenten Großforschungsanlagen zur Sicherheit beitragen könne. »Wie das konkret geschehen kann, diskutieren wir zurzeit innerhalb unseres Zentrums. Das Thema ist komplex, und ich möchte dem Ergebnis dieses wichtigen Prozesses nicht vorgreifen.« Eine grundlegende Neuausrichtung des DESYs und seines Forschungsprogramms werde es nicht geben.

DLR und Fraunhofer forschen seit Langem auch fürs Militär

Anders verhält es sich beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und der Fraunhofer-Gesellschaft. Beide forschen seit Jahrzehnten für Auftraggeber aus dem Militär- und Sicherheitssektor. Das reicht von Beiträgen zu den Kampfflugzeugen Tornado und Eurofighter über Maßnahmen gegen GPS-Jamming bis hin zu Quantensensoren, die auch in stockdunkler Nacht präzise Bilder der Umgebung liefern und dabei unentdeckbar bleiben.

Unter welchen Begrifflichkeiten solche Arbeiten versammelt werden, ist ein Kapitel für sich. Ob von Militär- oder Rüstungsforschung zu sprechen ist, von sicherheitsrelevanter oder Verteidigungsforschung – das hängt nicht nur vom Inhalt ab, sondern auch vom Rahmen, den der Sprecher setzen will, neuerdings als Framing bezeichnet.

Der Begriff Dual Use stößt rasch an Grenzen

Häufig fällt auch der Begriff Dual Use. Eine Dual-Use-Technologie kann sowohl für zivile als auch für militärische Anwendungen genutzt werden. Diese Definition trifft allerdings auf fast alle Technologien zu, gibt Rafaela Kraus von der Universität der Bundeswehr in München zu bedenken. »Wir hatten neulich eine Anfrage von einem Start-up, das sich mit autonomem Fahren beschäftigt.« Mit dessen Kits lassen sich bestehende Fahrzeuge so ausrüsten, dass sie auf Baustellen oder im Bergbau autonom fahren können. »Das ist natürlich ebenso interessant für die militärische Seite, weil man dort auch im Gelände unterwegs ist, in Bereichen, wo kein normaler Verkehr zu beachten ist.« Die Liste ließe sich fortsetzen mit Studien zu Psychologie, Medizin oder Ernährung.

Selbst Betonforschung könne dazugehören, wie Jan Wörner ergänzt. Er ist Bauingenieur und Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech). Ein Doktorand habe einen ausgesprochen widerstandsfähigen Beton entwickelt, aus dem die Mauer um die deutsche Botschaft in Kabul gebaut wurde. Bei einem Sprengstoffanschlag auf einer nahen Kreuzung sei die Umgebung erheblich beschädigt worden, berichtet Wörner. Die Mauer blieb aber stehen. »Aus einer rein zivilen Nutzung war nun auch eine militärische Anwendung geworden.«

Wörner hält den Begriff Dual Use daher für nicht hilfreich, ebenso wenig wie eine Festlegung auf »ausschließlich zivil« oder »ausschließlich militärisch«. Die Europäische Weltraumagentur ESA, die Wörner bis 2021 leitete, habe eine gute Formulierung gefunden. »In ihrer Konvention heißt es ›ausschließlich friedliche Zwecke‹, und dahinter sollten wir uns alle finden können«, sagt er. Schließlich gehe es nicht um Angriffskriege, sondern um Verteidigung.

Verteilungskonflikte drohen

Das Finanzpaket, das Anfang 2025 von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde, sieht auch Milliardenbeträge für Verteidigung – einschließlich darauf bezogener Forschung – vor. Ob sie effektiv eingesetzt werden, muss sich zeigen. Vom 2022 beschlossenen 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr kam jedenfalls kaum etwas in der Wissenschaft an. Nun sollen, nach der Grundgesetzänderung, weitere Geldmittel folgen. »Eine Forschungs- und Innovationsstrategie der Bundeswehr wird derzeit entwickelt, um das Geld zielgerichtet an die Institutionen zu verteilen«, sagt Rafaela Kraus von der Universität der Bundeswehr.

In anderen Ländern ist das seit Jahren etabliert, etwa in Form der DARPA in den USA, die Forschungsprojekte zur Verteidigung organisiert. Die Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) empfiehlt eine ähnliche Einrichtung in Deutschland. »SPRIND.MIL« soll explizit militärische Innovationen aus Hochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Start-ups fördern.

Rafaela Kraus ist skeptisch. »Wir verfügen bereits über eine Vielzahl relevanter Institutionen, darunter den Cyber Innovation Hub der Bundeswehr, den Palladion Defence Accelerator oder die Cyberagentur.« Aktuell entstehe zudem am ehemaligen Fliegerhorst in Erding ein Innovationszentrum der Bundeswehr, das viele Elemente einer DARPA-ähnlichen Einrichtung abbilden soll. Dazu gehören beispielsweise die systematische Förderung von Dual-Use-Innovationen, die Vernetzung von Wirtschaft, Wissenschaft und Militär, Testinfrastrukturen und die Zusammenarbeit mit Start-ups.

»Bevor neue Institutionen geschaffen werden, wäre es meines Erachtens sinnvoll, die bestehenden Akteure zu einem Round Table einzuladen«, argumentiert Kraus. Ziel sollte sein, die jeweiligen Kompetenzen transparent darzustellen, mögliche Doppelstrukturen zu identifizieren und nur dort neue Strukturen aufzubauen, wo tatsächlich noch strategische Lücken oder Förderdefizite bestehen. »Ein ressortübergreifendes Vorgehen wäre dabei ausdrücklich zu begrüßen«, sagt sie. »Es braucht jedoch auch ein klares Mandat beziehungsweise eine führende Instanz, um bereits jetzt zu beobachtende unproduktive Verteilungskonflikte zwischen bestehenden Agenturen und Innovationsakteuren zu vermeiden.«

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.