Neuronale Informationsverarbeitung: Warum denken wir so langsam?

Gerade einmal 5,5 Sekunden hat Tommy Cherry gebraucht, um sich die komplette Konfiguration eines Rubik's-Cube-Zauberwürfels zu merken, und dann noch einmal etwa 7 Sekunden, um ihn mit verbundenen Augen vollständig zu lösen. Ein Weltrekord. Trotzdem eigentlich ziemlich langsam, finden die beiden Neurowissenschaftler Jieyu Zheng und Markus Meister vom California Institute of Technology (Caltech). In einem Fachartikel haben sie ausgerechnet, dass Cherrys Denkgeschwindigkeit bloß 11,8 Bit pro Sekunde betragen hat. Geradezu lächerlich, wenn man es mit einem halbwegs modernen Computer vergleicht. Dieser kann ohne Probleme ein Milliardenfaches an Information in derselben Zeit verarbeiten.
Um die Geschwindigkeit zu bestimmen, mit der wir komplexe Probleme lösen, bedienten sich die zwei Forscher der Informationstheorie. Hierbei handelt es sich um ein mathematisches Konstrukt, das man im Alltag vor allem im Zusammenhang mit dem Speicherplatz von Handys und Computern kennt: Mega- oder Gigabyte bemessen den Informationsgehalt. Für ein RGB-Farbbild mit 500 x 500 Pixeln ergibt sich beispielsweise eine ziemlich gewaltige Menge an Information – jedes der 250 000 Pixel hat einen von 16 Millionen möglichen Farbwerten. In Einheiten der Informationstheorie sind das 6 Millionen Bit oder ungefähr 0,75 Megabyte.
Im Vergleich zu den Kombinationsmöglichkeiten eines Rubik's Cube ist das astronomisch: Der Rätselwürfel hat 54 Felder mit nur sechs verschiedenen Farben. Da sich auch nicht alle Felder mit allen Farben frei kombinieren lassen – die acht Ecken können zum Beispiel nicht an andere Stellen im Würfel bewegt werden –, enthalten die Muster lediglich etwa 65 Bit an Information. Wenn Tommy Cherry diese innerhalb von 5,5 Sekunden komplett erfasst, dann hat er eben nur etwa 11,8 Bit pro Sekunde verarbeitet.
Die Fachleute haben mit Hilfe der Informationstheorie zudem berechnet, mit welcher mentalen Geschwindigkeit wir andere Situationen meistern. Zum Beispiel: Wie schnell kann jemand mit uns sprechen, ohne dass wir überfordert sind? Wie schnell schaffen wir es, selbst zu reden, ohne die meiste Zeit mit Füllwörtern wie »ähm …« oder »also« zu überbrücken? Oder: Ab welcher Geschwindigkeit sind wir vom Tetris-Spiel kognitiv so beansprucht, dass wir die Steine nicht mehr schnell genug setzen können? In jedem Bereich, den die Forscher überprüft haben, waren die Bestleistungen immer noch ziemlich langsam. Über 50 Bit pro Sekunde kamen auch die schnellsten Denkerinnen und Denker bei keiner der Aufgaben hinaus.
Eigentlich sollte das Gehirn viel mehr können
Vergleicht man es mit den Informationsraten, die wir von Computern kennen, sind unsere in etwa 10 Bit pro Sekunde fast peinlich. »Selbst wenn jemand 100 Jahre lang niemals schläft und 24 Stunden am Tag sein Wahrnehmungslimit vollständig ausreizt, dann hat er am Ende gerade einmal so viele Informationen gesammelt, wie auf einen kleinen USB-Stick passen«, schreiben die Studienautoren.
Das wirklich Rätselhafte an den Ergebnissen ist aber, dass das Gehirn eigentlich viel mehr können sollte. Schon allein die Nervenbahn, die die Augen mit der Sehrinde im Gehirn verbindet, kann den Berechnungen zufolge bis zu 100 Millionen Bit pro Sekunde verarbeiten: Es gibt dort etwa eine Million Nervenzellen, die jeweils mit einer Geschwindigkeit von bis zu 100 Bit pro Sekunde kommunizieren können. Der enorme Informationsausstoß dieser Zellen wird vom Gehirn auch ohne Probleme verarbeitet: Richtet man den Blick zum Beispiel auf einen Rubik's Cube, schafft es das Gehirn blitzschnell, die hochkomplexe Information von den Millionen von einzelnen Zellen im Auge zu verarbeiten und zu einem einheitlichen Bild zusammenzufügen.
Ist die Information, welche die Sinne an das Gehirn herantragen, aber erst einmal verarbeitet, werden alle weiteren Prozesse auf einmal schleichend langsam. Um sich die paar Felder des Würfels zu merken, braucht das Gehirn vergleichsweise ewig. Und das, obwohl es eigentlich genügend Rechenkapazität gäbe, um hierbei schneller zu sein: Bei Menschen enthält das Gehirn in Summe ungefähr 50 bis 100 Milliarden Nervenzellen, von denen jede einzelne 10 Bit oder mehr pro Sekunde verarbeiten kann. Also ungefähr genauso viel, wie die Neurowissenschaftler Zheng und Meister für unseren kompletten Denkprozess berechnet haben. Warum denken wir also trotz einer so beeindruckenden Rechenleistung vergleichsweise in Schneckengeschwindigkeit?
Der Vergleich hinkt
Simon Laughlin von der University of Cambridge findet die Frage interessant, die die US-Forscher mit ihren Berechnungen aufwerfen. Überrascht ist er von den Ergebnissen aber nicht. »Es war ziemlich erwartbar, dass es eine große Diskrepanz zwischen der theoretischen Kapazität und der tatsächlichen Leistung des Gehirns gibt«, sagt der emeritierte Neurowissenschaftler. Es würde uns viel von unserer Flexibilität rauben, wenn wir die Rechenkapazität des Denkorgans bis zum Anschlag ausnutzen würden. Dann wäre keine Kapazität mehr übrig, um auf überraschende Ereignisse schnell zu reagieren, wie einen unerwarteten Anruf der Tante oder, etwas dramatischer, einen plötzlichen Raubüberfall.
Und auch ein Vergleich mit der Geschwindigkeit von Computern hinke: »Maschinen sind sehr schnell darin, Informationen abzuspeichern. Sie haben dann aber große Probleme damit herauszufinden, was die abgespeicherte Information eigentlich bedeutet. Computer können zum Beispiel ziemlich einfach große Bilddateien speichern. Um allerdings festzustellen, ob das Bild einen Hund oder eine Katze zeigt, sind komplizierte Algorithmen notwendig.«
Vor allem stellen die Berechnungen nur einen Teil der Datenmenge dar, die tatsächlich vom Gehirn verarbeitet wird. »Information ist keine physikalische Einheit wie Temperatur oder Masse. Das Ergebnis hängt immer davon ab, was und wie man genau misst«, sagt Laughlin. Viel Rechenkapazität könne zum Beispiel darin gebunden sein, andere Handlungsimpulse zu unterdrücken und Störfaktoren wie laute Gespräche im Hintergrund herauszufiltern. Solche Aufgaben würden aber in der Berechnung der Informationsrate nicht berücksichtigt.
Die Kapazität des Gehirns übersteigt dessen Leistung um das 100-Millionenfache
Trotz dieser Einwände kann man die Feststellung nicht ganz vom Tisch wischen, dass wir mit unserem Höchstleistungsgehirn eigentlich ziemlich langsam unterwegs sind. Denn dessen theoretische Kapazität übersteigt die tatsächliche Leistung nicht nur um das Doppelte, Zehn- oder Tausendfache, sondern um das 100-Millionenfache. »Ein so gewaltiger Unterschied lässt sich nicht einfach wegerklären«, sagt Moritz Helmstaedter, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. »Die Berechnungen machen deutlich, dass wir noch überhaupt nicht verstanden haben, wofür das Gehirn seine Rechenkapazitäten im Detail einsetzt. Der Hirnforschung stehen da noch einige Überraschungen bevor.«
Schuld daran ist die Evolution
Trotzdem findet der Neurowissenschaftler es einleuchtend, dass wir nicht schneller denken. »Einen fundamentalen Grund, warum wir nicht doppelt oder dreimal so schnell sein könnten, gibt es nicht. Aber evolutionär war das nicht notwendig: Wir haben es auch so geschafft, den größten Gefahren auszuweichen.« Trotz unserer langsamen Art, Informationen zu verarbeiten, konnten wir Raubtieren rasch genug aus dem Weg gehen und ausreichend selbst Beute fangen. Um bedeutend schneller zu werden, fehlte der entsprechende evolutionäre Druck.
Für die Welt der Zukunft könnte unsere geistige Trägheit allerdings nicht mehr genügen. Das glauben zumindest die beiden Studienautoren Zheng und Meister. »Es ist offensichtlich, dass Maschinen in allen Aufgaben besser sein werden als Menschen«, schreiben sie in ihrem Artikel. Die Leistungsfähigkeit von Maschinen verdoppele sich ungefähr alle zwei Jahre, die der Menschen bleibe konstant. Auch Li Zhaoping vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik fände es nicht überraschend, wenn Computer in vielem besser werden als Menschen. »Maschinen können im Gegensatz zum Gehirn fast unbegrenzt Ressourcen verbrauchen. Das Gehirn muss mit der Energie zurechtkommen, die man aus Nahrungsmitteln gewinnt.«
Eine mögliche Folge davon ist, dass wir mit unserem langsamen Gehirn in der Zukunft bei vielen Aufgaben kürzertreten müssen: »Der Straßenverkehr ist heute für Kreaturen ausgelegt, die Informationen mit 10 Bit pro Sekunde verarbeiten«, schreiben Zheng und Meister. »Sobald die letzten menschlichen Fahrer endlich von der Straße sind, können wir die Infrastruktur auf Maschinen ausrichten, die um ein 1000-Faches schneller denken. Menschen haben dann im Straßenverkehr genauso wenig zu suchen wie Schnecken auf der Autobahn.«
Ganz so dramatisch muss es jedoch nicht kommen. Schon heute sind Computer uns in vielen Aufgaben überlegen, die Kontrolle haben sie aber noch nicht übernommen. »Ohne die Unterstützung von Computern wären Piloten zum Beispiel nicht mehr dazu in der Lage, Kampfjets zu kontrollieren. Sie sind dafür einfach nicht schnell genug«, sagt der Neurowissenschaftler Laughlin. Die Flugrichtung geben allerdings am Ende immer noch die Menschen vor – egal wie viele Computer mit an Bord sind.
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