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Pollenflug: Das Ringen um die richtige Vorhersage

Bessere Pollenflugvorhersagen können Allergikern das Leben erleichtern. Doch die Prognosen werden schwieriger. Eine Spurensuche zwischen fehlenden Mitteln, KI und Citizen-Science.
Ein Ast mit gelben Kätzchen hängt über einem verschwommenen, glitzernden Gewässer im Hintergrund. Die Kätzchen sind lang und hängen in Gruppen von den Zweigen. Der Hintergrund zeigt ein ruhiges, reflektierendes Wasser.
Haselstrauch in seiner Blüte. Der Frühblüher ist der Schreck vieler von Heuschnupfen Geplagter.

Wann genau sind welche Pollen unterwegs? Im Mai und im Juni zeigt sich, dass die Antwort darauf alles andere als offensichtlich ist. Weißer Pappelflaum fegt dann vielerorts durch die Lüfte. Aber entgegen einer weitläufigen Befürchtung löst dieser Flaum keine allergischen Reaktionen aus. Es handelt sich nämlich um die nichtallergenen Samen der Pappel. Einige verwechseln diese mit ihren Pollen, die zu dem Zeitpunkt allerdings längst nicht mehr in der Luft schwirren. Doch selbst für Fachleute wird es immer schwerer vorherzusagen, welche Pollen umherschweben. Die Gründe: der Klimawandel, fehlende Mittel für die Beobachtung und eine KI, die menschliche Expertise nicht ersetzen kann – noch nicht.

Pollen sind Blütenstaub. Er ist potenziell allergen und besteht aus winzigen Körnern. Diese enthalten die männlichen Geschlechtszellen, welche die weiblichen Eizellen einer Pflanzenblüte befruchten, um Samen zu bilden. In einem einzigen flauschigen Kätzchen können mehrere Millionen dieser Körnchen stecken. Menschen mit einer Allergie spüren sie bereits ab einer Konzentration von nur wenigen Pollen pro Kubikmeter Luft – etwa wenn die Pappel tatsächlich im März oder April blüht und da ihre Pollen-Hochsaison hat.

Die Pollensaisons erstrecken sich von Januar bis Oktober und umfassen verschiedene Bäume sowie Gräser und weitere krautige, meist windbestäubte Pflanzen: Vielen Betroffenen tränen früh im Jahr ihre Augen und Nasen, etwa von der Erle, anderen bereiten nur Süßgräser zum Sommer hin Schwierigkeiten. Manche reagieren erst im Spätherbst auf Ambrosia-Kräuter, während andere im Jahresverlauf auf Hasel, Birke, Beifuß, Roggen, Eiche oder andere Pflanzen ansprechen. Nur selten leidet jemand unter sämtlichen Pollen.

Pollenflug ist zudem lokal recht eingegrenzt. Orientierung bieten hier Pollenvorhersagedienste: Geplagte von Heuschnupfen – in der Fachsprache auch Pollinosis genannt – profitieren von den Prognosen und Warnungen.

Schutz vor Pollen mit Maske und Prognose

Wer in Deutschland aktuelle Pollenwarnungen sowie Tages- und Wochenvorhersagen für bestimmte Pflanzenarten und Regionen erfahren will, kann sich zum Beispiel kostenlos bei dem nationalen Netzwerk informieren: Die 1983 gegründete Stiftung Deutscher Polleninformationsdienst, kurz PID, misst bundesweit den Pollenflug. Die qualitativ hochwertigen Messdaten werden mit einer wissenschaftlichen Methode ausgewertet, die im Wesentlichen eines Klebebands, eines Mikroskops und vor allem eines geschulten Auges bedarf.

Auch Katharina und Maximilian Bastl setzen auf die Methode. Das Aerobiologenpaar macht für die Medizinische Universität Wien die Pollenvorhersage. Die beiden reagieren selbst hochallergisch auf bestimmte Pollen und halten sich vorzugsweise drinnen auf, wenn zu viele davon in der Luft schwirren. In den eigenen vier Wänden ihres Neubaus können die Bastls dank Passivbelüftung und Luftfilter endlich frei durchatmen.

Wenn sie aber draußen den Blühfortschritt bestimmter Pflanzen observieren oder einen Familienausflug planen, treffen sie die allgemein empfohlenen Vorkehrungen: Sonnenbrille als Augenschutz, Hut oder Kappe als Kopfbedeckung und FFP2- oder FFP3-Maske als Atemschutz. Dazu kommen ein Antiallergikum in ihrer Tasche sowie routinemäßiges Nasenduschen und Haarewaschen. Übertrieben ist das durchaus nicht, denn Allergikern kann es den Tag verhunzen, wenn sie unvorbereitet starkem Pollenflug ausgesetzt sind. Andersherum will wohl niemand auf Grund einer falschen Vorhersage auf den Ausflug ins Freie verzichten oder unnötig viele Medikamente einnehmen, die anderweitig beeinträchtigen können.

Schätzungsweise über 30 Prozent der Menschen entwickeln im Lauf ihres Lebens eine Allergie

Allergische Atemwegserkrankungen reduzieren die Lebensqualität vieler Menschen. Schätzungsweise mehr als 30 Prozent der Menschen entwickeln dem Robert Koch-Institut (RKI) zufolge im Lauf ihres Lebens eine Allergie, und Heuschnupfen ist mit Abstand die häufigste darunter.

Umso mehr ist sich das Aerobiologenpaar seiner Verantwortung bei der Erstellung einer möglichst verlässlichen Pollenvorhersage bewusst. »Pollenvorhersage« ist allerdings kein geschützter Begriff – theoretisch könnte jeder Laie eine erstellen. So sind auch viele Apps im Umlauf, aus denen aber das zu Grunde liegende Analyseverfahren nicht eindeutig hervorgeht. Die Bastls stützen ihre wissenschaftliche Pollenvorhersage auf drei Pfeiler: standardisierte Pollenmessung, biologische Feldbeobachtung und Berücksichtigung der Wetterprognose.

Wie Pollenflug standardisiert gemessen wird

Das Pollenpaar, wie sich die zwei auf Instagram nennen, geht für seine Vorhersage alle paar Tage aufs Dach der Medizinischen Universität Wien. Dort tauscht es die Trommel einer eimergroßen Pollenfalle und analysiert anschließend deren Inhalt. Das Ganze läuft nach der so genannten Hirst-Methode ab: Das Gerät saugt kontinuierlich Pilzsporen und Pollen aus der Luft. Diese haften dann im Inneren auf einem rotierenden Klebeband, das später im Labor in Segmente unterteilt wird. Jedes Segment entspricht einem festen Messzeitraum. Die Biologen identifizieren und zählen die Pollenkörner der vergangenen Tage dann unter dem Mikroskop. Die Pollen jeder Pflanzenart sehen anders aus, und oft kleben mehr als 70 verschiedene Pollentypen auf dem Band. Maximilian Bastl braucht dank jahrzehntelang geschultem Auge weniger als eine Stunde pro Objektträger.

Pollenfalle | Pilzsporen und Pollen aus der Luft haften im Gerät an einem rotierenden Klebeband. Später werden sie unter dem Mikroskop untersucht.

Diese routinemäßige Bestimmung der Sporen- und Pollenkonzentration in der Atmosphäre wird weltweit standardisiert praktiziert, seit der britische Aerobiologe John Malcom Hirst die Methode samt Gerätschaft in den 1950er Jahren erfand und kommerzialisierte. Hirsts Erfindung war ein Durchbruch. Nicht nur ließen sich Pollen damit besser identifizieren und untersuchen, auch Vorhersagen und die Ausgabe von Pollenwarnungen verbesserten sich dadurch.

Das Verfahren stützt sich hauptsächlich auf die Pollendaten der vergangenen Tage und generiert daraus die Voraussage für die kommenden Tage. Zusätzlich gehen die Aerobiologen regelmäßig ins Feld, um die Phänologie zu beobachten, also periodisch wiederkehrende Entwicklungsphasen der Vegetation im Jahresverlauf. »Wir haben unsere Referenzstandorte und schauen uns dort den Blühfortschritt der Pflanzen an«, erklärt Katharina Bastl. »So können wir unsere Region ganz gut einschätzen und unterschiedliche klimatische Aspekte abfangen: Stadtpflanzen sind natürlich immer ein bisschen früher dran als die auf dem Land.«

Wetter und Klima fordern Pollenvorhersage heraus

Die Messdaten à la Hirst mitsamt den phänologischen Feldobservationen verknüpft das Pollenpaar dann mit meteorologischen Daten. Dafür telefonieren die Aerobiologen regelmäßig mit dem österreichischen Wetterdienst: »Bevor ich meine Prognose schreibe, sage ich den Meteorologen, was ich an Pollen erwarte, und sie sagen mir, was sie vom Wetter erwarten«, erläutert Maximilian Bastl. »Das kombinieren wir dann gemeinsam zu einer halbwegs akkuraten Pollenvorhersage.« An der Pollenvorhersage haftet somit vor allem die Unsicherheit der Wetterprognose. Denn der Pollenflug schwächt sich beispielsweise nach Regen ab – wenn es dann auch tatsächlich regnet. Natürlich beeinflussen ebenso Windrichtung und Temperatur den Pollenflug.

Steigende Temperaturen lassen die Pollensaison früher beginnen und später enden

Und noch eine weitere Unwägbarkeit fordert die Genauigkeit der Prognose heraus: der Klimawandel. Steigende Temperaturen lassen die Pollensaison früher beginnen und später enden, da einige Sträucher und Bäume mittlerweile deutlich früher blühen. Das macht bestehende Blühvorhersagemodelle unzuverlässiger. Zudem können sich Extremwetter stark auf den Flug und die Freisetzung von Pollen auswirken. »Im Jahr 2024 hatten wir im Winter bereits extreme Temperaturen. Da haben wir nicht auf die Modelle gehört, weil wir sicher waren, dass sie falschliegen müssen«, sagt Katharina Bastl. Stattdessen erhöhten sie die Ausleserate ihrer Hirst-Pollenfalle und die Qualitätskontrollen im Feld, um ihre Vorhersagegenauigkeit beizubehalten.

Darüber hinaus kommen neue Allergene hinzu. Im Wiener Raum breiten sich beispielsweise gebietsfremde Beifußarten aus. Sie stammen aus Südostasien und sind stark allergen. Beifußpollen haben ihren Höchstwert gewöhnlich Mitte August, und hauptverantwortlich dafür ist der heimische Beifuß. Doch im Jahr 2023 wurde alles anders. Die beiden Aerobiologen zeigten, dass Beifußpollen nunmehr auch im September Spitzenwerte erreichen konnten. Und sie vermuteten, dass sich diese zweite Hauptsaison fortan etablieren würde, wenn der Herbst zukünftig wieder sommerliche Temperaturen erreicht.

Richtige Stadtplanung für weniger Pollen

Als sie ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift »Aerobiologia« veröffentlichten, monierten einige Fachleute den provokanten Titel »Punkt ohne Wiederkehr erreicht?«, da es doch zu früh erschien, gleich einen neuen Trend zu postulieren. »Allerdings haben auch die Messungen 2024 diese zeitliche Verschiebung bestätigt, noch dazu mit einer Saisonspitze, die dreimal höher war als die der heimischen Arten im August«, sagt Maximilian Bastl. Ob der Beifuß auch 2025 diese neue Vegetationsperiode zeigt, bleibe indes abzuwarten. Es sei jedenfalls wichtig, die Entwicklung sowie Pollensaisons anderer Pflanzen zukünftig genauer zu überwachen, mahnt das Pollenpaar.

Gelber Staub | Die geöffneten Kätzchen der Purpurerle sind bedeckt von Pollen.

Denn durch den Klimawandel werden wohl auch allergische Erkrankungen weiter zunehmen. Hierzu veröffentlichte das RKI im Journal of Health Monitoring mit 90 Autoren einen umfassenden »Sachstandsbericht Klimawandel und Gesundheit 2023«. Die Fachleute kamen darin unter anderem zu diesem Fazit: Es besteht Handlungsbedarf – für das Monitoring von Pollen und Schimmelpilzsporen sowie für Allergien.

»Eine einfache Möglichkeit wäre es, bei der Stadtbepflanzung auf weibliche Pflanzen zu setzen«Katharina Bastl, Aerobiologin

Der RKI-Sachstandsbericht legt angesichts der zu erwartenden Zunahme an Allergikern nicht nur eine Verstärkung hochqualitativer Pollenmessungen nahe, sondern regt zum Neudenken der zukünftigen Stadtplanung an. Eine mögliche Maßnahme wäre, weniger Birken zu pflanzen. Katharina Bastl hat da einen pragmatischen Vorschlag: »Mehr Frauen!« Sie erläutert: »Einige allergene Pflanzen sind zweihäusig, es gibt also rein männliche und weibliche Exemplare. Eine einfache Möglichkeit wäre es, bei der Stadtbepflanzung auf die weiblichen zu setzen. Früher wurden leider die männlichen Bäume bevorzugt, weil die weiblichen Blüten nach der Bestäubung Früchte und Samen bilden. Die landen dann als Dreck auf der Straße. Weibliche machen aber keine Pollen und wären für Allergiker verträglich.«

Invasive Pflanzen bringen andere Pollen

Mitautor des RKI-Sachstandsberichts ist der PID. Eine der Stationen des deutschen Netzwerks befindet sich auf dem Dach der Berliner Charité. Wie die Bastls in Wien wechselt dort der Aerobiologe und Landschaftsökologe Matthias Werchan mindestens einmal pro Woche die Messtrommel der Pollenfalle und analysiert die Pollen am Mikroskop. Die Pollenprognosen des PID fußen ebenfalls zusätzlich auf phänologischen Feldbeobachtungen, Pollenflugmodellen und meteorologischen Vorhersagen.

Werchan arbeitet seit 2011 für den PID. Einige Messstationen der Stiftung liefern seit mehr als 30 Jahren kontinuierliche Datenreihen. Damit lassen sich klimabedingte Änderungen im Pollenflug über lange Zeiträume analysieren. Werchan sieht die klare Tendenz, dass Strauch- und Baumpollen wie Hasel, Erle und Pappel nun deutlich früher im Jahr auftreten: »In der Vergangenheit war Erlenpollen-Hauptsaison im März, im Jahr 2024 war der Höhepunkt bereits Mitte Februar, und Anfang März war es quasi vorbei. Die extremen Jahre nehmen zu«, resümiert er.

»Der Götterbaum und auch andere invasive Arten wie der Eschenahorn ändern allmählich das Pollenspektrum der Luft«Matthias Werchan, Pollenanalyst

Er beobachtet zudem, dass in den vergangenen Jahren auch hier zu Lande neue allergierelevante Pollen hinzukamen und dass sich besonders wärmeliebende Pflanzen ausbreiten. 2024 berichtete Werchan zusammen mit Kolleginnen und Kollegen in einer Fachzeitschrift, wie der potenziell allergene Götterbaum, der eigentlich in China und Korea heimisch ist, nun auch hier an Bedeutung gewinnt. »In manchen Städten ist der Götterbaum schon weit verbreitet. Diese und auch andere invasive Arten wie der Eschenahorn ändern allmählich das Pollenspektrum der Luft«, erklärt der Pollenanalyst.

Es mangelt an Geldern und Freiwilligen

Die Pollenvorhersagen des PID sind frei zugänglich, nur für die Bereitstellung der Messdaten zahlt man Lizenzgebühren – wie in Europa oftmals üblich. Obwohl Europa das wohl dichteste Netz an Pollenmessstationen der Welt hat, gibt es keine gemeinsame Plattform, die alle Informationen kostenlos und transparent zur Verfügung stellt. Denn Pollenmessdienste erhalten selten öffentliche Zuwendung und müssen sich über Wasser halten. Die Pollenflugforschung sei generell chronisch unterfinanziert, meinen die Bastls.

»Vielleicht, weil man sich an die Freiwilligkeit zu sehr gewöhnt hat«, sagt Matthias Werchan und erläutert: »In den 1980ern und 1990ern gab es viel mehr Begeisterung und Elan für Pollenmessungen. So war es zum Beispiel Trend, auf das Dach einer Klinik eine Hirst-Falle zu stellen. Es gab damals sowohl viel mehr Bereitschaft als auch mehr Ehrenamtliche, um diese Messungen durchzuführen. Heute ist es schwieriger.« Der PID finanziert sich zusätzlich durch Spenden. Einst hatte er mehr als 50 Stationen bundesweit verteilt, jetzt sind es nur noch 33. Werchan zufolge fehlt es an freiwilligem Nachwuchs und an Geldern für Angestellte.

Derselbe Trend zeigt sich auch in anderen Ländern. Das nationale Netzwerk Frankreichs zur aerobiologischen Überwachung, das Réseau National de Surveillance Aérobiologique, kurz RNSA, wurde im März 2025 mangels öffentlicher Finanzierung aufgelöst. Seine Dienste haben teilweise andere Institutionen übernommen.

Noch ist der Mensch besser als KI

Kann künstliche Intelligenz die Lücke füllen? Mittlerweile messen immer häufiger Automaten den Pollenflug, eine KI-gestützte Bilderkennung analysiert die darin gefangenen Pollen. Das hat unter anderem den Charme, dass die so erhobenen Daten urheberrechtsfrei sind und somit jedem zur Verfügung stehen. Doch vom Trend zu KI-Systemen ist Werchan bisher nicht vollends überzeugt. »Die neu entwickelten KI-Automaten sind schnell, aber teuer. Und die mikroskopische Auswertung durch erfahrene Aerobiologen ist immer noch zuverlässiger«, erklärt Werchan. Er sorgt sich, dass dadurch möglicherweise das Wissen seines Berufsstands verloren geht und auch dass die Erforschung des Klimaeinflusses darunter leidet: »Plötzlich gibt es Geld für KI-Automaten, aber nach wie vor kaum etwas für Aerobiologen. Man kann nur hoffen, dass die langen Messreihen zu Gunsten der neuen KI-Systeme nicht irgendwann abgebrochen werden.«

Nahaufnahme | Dieser Blick durch das Mikroskop zeigt ein Pollenspektrum im Wiener Frühling.

Noch sei der Mensch besser als die KI, wenn es um die Erkennung von Pollen geht. In Pollenkursen schult Werchan die Teilnehmenden, mikroskopische Feinheiten der Pollenkörner verschiedener Arten zu identifizieren. »Mit entsprechender Erfahrung erkennen die Trainees auch dann die Pollenart, wenn ein Pollenkorn verschrumpelt und ein anderes aufgequollen ist«, erklärt Werchan eine der Herausforderungen. Pollenanalytik sei jedoch kein Hexenwerk. Jeder mit Begeisterung für Mikroskopie könne lernen, Pollen zu bestimmen.

Auch der KI würde sein Training wahrscheinlich nützen. Maximilian Bastl kennt einen Fall, wo eine KI-Bilderkennung erhebliche Mengen von Saharastaub mit Pilzsporen verwechselt hatte. Seit dem Jahr 2024 arbeitet er in Kooperation mit einer Aerosolphysikerin des österreichischen Wetterdienstes am Observatorium Sonnblick an einer KI-Erkennung mittels Fluoreszenzmikroskopie. Dieser Ansatz könnte die rein optische KI-Bilderkennung ergänzen. Bioaerosole wie Pollen oder Pilzsporen würden dann gar nicht erst in Verlegenheit geraten, mit nichtorganischem Material wie Saharastaub verwechselt zu werden. Doch die Fluoreszenzerkennung steckt noch in den Kinderschuhen.

KI liefert Pollendaten in Echtzeit

Für die optische KI-Bilderkennung existieren hingegen schon fertige Systeme zur Pollenmessung. Eines der neuesten – und validierten – Geräte steht in Berlin auf dem Tempelhofer Feld auf dem Dach eines ehemaligen Flughafengebäudes. Es ist Gegenstand eines wachsenden Citizen-Science-Projekts. Die Ärztin Stephanie Dramburg leitet das Forschungsprojekt #berlinbreathing an der Charité-Universitätsmedizin, das zusammen mit der Berliner Bevölkerung die personalisierte Allergievorhersage verbessern will.

Dramburg will die Menschen befähigen, ihre eigenen allergischen Erkrankungen besser zu verstehen und ihren Alltag besser zu managen: »Ziel wäre es, dass man sagen kann: Soll ich morgens oder abends joggen? Nehme ich präventiv Medikamente, weil es richtig viel Pollenflug geben wird, oder reicht es, wenn ich sie in der Tasche habe? Wir haben so viele Patienten, die fangen im Frühjahr an, Medikamente zu nehmen, und nehmen sie bis zum Herbst durch – jeden Tag!«, kritisiert die Ärztin. »Das sind zwar keine gefährlichen Medikamente, aber es sind eben Medikamente. Und ich bin der Überzeugung, dass sich das reduzieren lässt.«

Daher hat Dramburgs Team die »Pollenius«-App ins Leben gerufen, in welche die Tempelhofer KI-Daten einfließen. Der kühlschrankgroße Apparat saugt die Berliner Luft ins Innere und deponiert deren feste Bestandteile auf ein Gel über einem Glasobjektträger, von dem automatisiert 140 Schichtfotos geschossen werden. Eine KI-Bilderkennungssoftware identifiziert und zählt daraufhin die Pollenarten auf den Fotos. Das Ergebnis wird dann sofort in der frei zugänglichen App dargestellt.

Der große KI-Vorteil: Diese Daten liegen quasi in Echtzeit vor. Allergiker können ihre eigene Reaktion auf aktuell umherschwirrende Pollenarten besser kennen lernen. Außerdem können sie ihre eigenen Verlaufsdaten zu ihrer Erkrankung und Medikation eingeben und bei Bedarf Hilfestellungen erhalten, erklärt Dramburg. So würden sie allergologische Praxen bei der Diagnostik und Therapieoptimierung unterstützen.

KI fehlt der gesunde Menschenverstand

»Allerdings müssen wir genügend Wissen generieren, und das können wir einerseits über Masse, andererseits über Klasse«, erläutert die Ärztin. Sie hofft für die Kategorie Masse, dass möglichst viele in Berlin anonym ihre Symptomdaten über die App spenden. »Wer in der Kategorie Klasse mitmachen will, kann sich gerne bei uns melden und in eine klinische Studie einschließen lassen. Da lernen wir die Patienten mit ihren Vorgeschichten persönlich kennen und begleiten sie über zwei Jahre in der Charité.«

»Dem geschulten Menschen würde dieser Fehler nie unterlaufen, weil er wüsste, dass es viel zu früh für die Birke ist«Stephanie Dramburg, Ärztin

Dass die KI noch nicht das Präzisionsniveau des Menschen erreicht, bestätigt allerdings auch Dramburg. Zwar machen Menschen ebenfalls Fehler: Lässt man unterschiedliche Personen dieselben Bilder analysieren, ergibt sich eine Fehlerquote von einigen Prozent, erläutert die Projektleiterin mit Verweis auf eine Fachpublikation. Das entspräche sogar in etwa der Fehlerquote einer optischen KI-Bilderkennung. Aber der KI fehle es an gesundem Menschenverstand. »Wenn 8000 Erlenpollen umherfliegen und das KI-System davon fälschlicherweise 1,5 Prozent als Birke identifiziert, so wäre die absolute Zahl groß genug für eine Birkenpollen-Warnung«, führt die Ärztin als Beispiel an. »Dem geschulten Menschen würde dieser Fehler nie unterlaufen, weil er wüsste, dass es viel zu früh für die Birke ist und er sich daher vertan haben muss. Doch diese kognitive Leistung bringt die KI nicht. Oder jedenfalls noch nicht.«

Daher müssen KIs laufend weitertrainiert werden. Dramburg und die Bastls schätzen, dass die KI noch fünf Jahre brauchen werde, um an den Menschen heranzukommen. Doch auch dann würden Menschen nie unnötig werden, betonen die Ärztin und die Aerobiologen übereinstimmend. Die menschliche Fachexpertise wäre immer essenziell, etwa für das Training, die Kontrolle und das Betreiben der KI-Systeme.

Vielleicht wird die Pollenvorhersage der Zukunft auch hybrid: An einigen Standorten KI-Stationen und an anderen, wo jahrzehntelange Messreihen fortgeführt werden sollen, menschenbetriebene Hirst-Standardanalysen. Hauptsache, Allergiker können sich dann halbwegs auf die Pollenvorhersage verlassen.

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  • Quellen
Addison-Smith, B. et al.: Standardising pollen monitoring: Quantifying confidence intervals for measurements of airborne pollen concentration. Aerobiologia 36, 2020
Bainbridge, A. et al.: John Malcolm Hirst, D.S.C. 20 April 1921 – 30 December 1997, Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society 45, 1999
Bastl, K. et al.: A second Artemisia pollen peak in autumn in Vienna: Reaching the point of no return? Aerobiologia, 2024
Oteros, J. et al.: Automatic and online pollen monitoring. International Archives of Allergy and Immunology 167, 2015
Werchan, M. et al.: An emerging aeroallergen in Europe: Tree-of-Heaven (Ailanthus altissima [Mill.] Swingle) inventory and pollen concentrations – taking a metropolitan region in Germany as an example. Science of the Total Environment 930, 2024

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