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Mittelalterlicher Cold Case: Die kaltblütige Rache der Aristokratin

Eine Adelige, die Überfälle beging, und ein Priester, der ihr Liebhaber war und sie verriet. Das Verhältnis endete mit einem Mord, den Kriminologen jetzt fast 700 Jahre nach der Tat aufgeklärt haben.
Eine mittelalterliche Illustration zeigt fünf Männer in bunter Kleidung, die Schwerter tragen. Einer der Männer stößt dem Mann in der Mitte sein Schwert in den Kopf, während ein anderer ihm sein Schwert in die Brust stößt. Die Szene ist an den Seiten von einem bunten Rahmen umgeben.
In der Liederhandschrift »Codex Manesse« in Heidelberg, die zwischen 1300 und 1340 entstanden war, ist der Mord an Reinmar III. von Brennenberg dargestellt. Die Tat ereignete sich um 1276. Mehr als ein halbes Jahrhundert später wurde auf ähnliche Weise John Forde in London getötet.

Am Freitag, den 3. Mai 1337, ging der Priester John Forde nach dem Abendgebet die Westcheap in London entlang, einer belebten Straße unweit der St Paul’s Cathedral. Da gesellte sich sein Berufskollege Hasculph Neville zu ihm und verwickelte ihn in ein Gespräch – woraufhin die beiden Geistlichen den Weg gemeinsam fortsetzten. Sie waren keine 200 Meter gegangen, als ihnen vier Männer den Weg abschnitten und sich unvermittelt auf Forde stürzten. Die Angreifer ließen dem Priester nicht den Hauch einer Chance: Während ihm einer der Männer mit einem langen Dolch hinterrücks die Kehle durchschnitt, stießen ihm zwei andere mehrmals ihr Messer in den Bauch. Noch ehe das Opfer im Rinnsal verblutet war, hatten die Mörder den Tatort bereits verlassen.

Weil sich das Verbrechen bei Tageslicht in einem belebten Viertel Londons ereignet hatte, gab es Augenzeugen des Geschehens, unter ihnen ein Hutmacher und ein Rosenkranzhersteller. Dank ihren Aussagen konnte der mit den Ermittlungen befasste Beamte nicht nur den Tathergang rekonstruieren, sondern sogar die Namen der Übeltäter ermitteln und einen Adeligen namens Hugh Lovell als ihren Anführer benennen. Doch trotz des schnellen Ermittlungserfolgs kam der Fall nie vor Gericht – und nur ein einziger Angreifer, ein Diener, landete fünf Jahre nach der Tat im Gefängnis von Newgate.

Der Fall des ermordeten Priesters ist einer von hunderten, die Manuel Eisner, Professor für Kriminologie an der University of Cambridge, und sein Team auf der Website »Medieval Murder Maps« zusammengetragen haben. Die Wissenschaftler untersuchten bislang 355 Fälle tödlicher Gewalt in drei englischen Städten des 14. Jahrhunderts – London, Oxford und York – und gingen der Frage nach, welchen Einfluss das städtische Umfeld auf das Muster der Gewalttaten hatte. »Dabei stellte sich heraus, dass in allen drei Städten Morde konzentriert an wichtigen Knotenpunkten des städtischen Lebens wie Märkten, Plätzen und Durchgangsstraßen geschahen«, schreiben Eisner und drei Kolleginnen im Fachjournal »Criminal Law Forum«. Die Zeitpunkte der Taten würden zeigen, dass die meisten Tötungsdelikte abends und an Wochenenden begangen wurden.

Insofern fällt der Fall Fordes nicht aus dem Rahmen. Zumal der Ort seines gewaltsamen Todes, die Straße Westcheap, zu jener Zeit ein berüchtigter Kriminalitätshotspot war: In den Tavernen und Spelunken eskalierten häufig Konflikte, und Handwerksjungen lieferten sich immer wieder Straßenschlachten, die nicht selten in Mord und Totschlag endeten. Doch Fordes blutiges Ende war keinesfalls der bedauernswerte Ausgang eines außer Kontrolle geratenen Streits, sondern der tödliche Schlusspunkt einer jahrelangen Geschichte aus Sex, Gewalt, Verrat und Vergeltung.

»Wir sehen hier einen Mord, den eine führende Persönlichkeit der englischen Aristokratie in Auftrag gegeben hatte«, erklärt Kriminologe Eisner in einem Pressebericht der University of Cambridge. Der Mord »war geplant und kaltblütig, er wurde von einem Mitglied der Familie und ihr nahestehenden Personen ausgeführt – all das spricht für Rache als Motiv«.

Adelige Dame mit mafiösen Neigungen

Im Zentrum dieses Rachedramas stand eine Adelige von offenbar zweifelhaftem Ruf und tadelnswertem Charakter: Ela Fitzpayne, Gemahlin von Robert Fitzpayne, einem Baron und ehemaligen Parlamentsmitglied. Den Mord an John Forde hatte sehr wahrscheinlich sie in Auftrag gegeben.

Das schlossen die Forscher aus dem, was sie über die Beziehungen der adeligen Dame herausgefunden haben. Sie war die Schwester jenes Hugh Lovell, der den Angriff angeführt und dem Priester an die Kehle gegangen war. Zudem hatten die beiden anderen Messerstecher bis kurz vor der Tat zu ihrer Dienerschaft gehört. Vor allem aber verband Ela Fitzpayne und das Mordopfer eine lange gemeinsame Geschichte.

So war John Forde nicht nur Rektor der Kirche von Okeford Fitzpayne gewesen, einem Dorf auf einem Landgut der Familie, sondern allem Anschein nach auch eine Zeit lang Elas Liebhaber. »Erstaunlicherweise lässt sich die Verbindung zwischen Ela Fitzpayne und John Forde in mehreren Dokumenten zurückverfolgen«, sagt Eisner.

Exkommunikation einer unverbesserlichen Sünderin

So existiert ein Brief, den der Erzbischof von Canterbury 1332 – vier Jahre vor der Bluttat – dem Bischof von Winchester schrieb. Darin berichtet der Erzbischof, er habe die Adelige wegen ihres ausschweifenden Lebenswandels und ihrer vielen Affären »mit Rittern und anderen, unverheirateten und verheirateten, und sogar mit Geistlichen an heiligen Orten« mit schweren Strafen und Bußen belegt. Unter anderem untersagte er ihr, fortan sieben Jahre lang Gold- oder Silberschmuck zu tragen, ebenso wenig Perlen oder Edelsteine. Außerdem sollte sie beträchtliche Summen an diverse Klöster zahlen und als Almosen unter den Armen verteilen.

Für die Frau war aber wohl die demütigendste Strafe, dass der Bischof von ihr verlangte, ebenfalls sieben Jahre lang zum öffentlichen Zeichen ihrer Buße alljährlich an einem Tag im Herbst barfüßig eine schwere Opferkerze durch das Kirchenschiff der Kathedrale von Salisbury zu tragen, dem damals längsten Gotteshaus Englands. »Sie hat sich jedoch, getrieben von einem Geist des Stolzes, oder besser gesagt des Teufels, geweigert, irgendetwas von dem zu tun, was ihr auferlegt wurde, und hat auch nicht auf das verzichtet, was ihr verboten war«, klagt der Erzbischof dem Amtskollegen und fügt hinzu, er habe die Sünderin exkommuniziert.

Bericht des »Coroner« | Bald nach der Tat vom 3. Mai 1337 hatte der Untersuchungsbeamte, der Coroner, genügend Hinweise gesammelt, um die Tat aufzuklären. Doch eine Anklage der Hauptverdächtigen blieb aus.

Von den vermeintlich zahlreichen Liebhabern der Frau, die dem Erzbischof zu Ohren gekommen waren, nannte er nur einen beim Namen: John Forde. Offenbar hatte der Priester seinem Vorgesetzten die verbotene Liebschaft gestanden, doch nur Ela Fitzpayne sollte dafür büßen. »Der Erzbischof hatte Ela eine schwere, beschämende öffentliche Buße auferlegt, der sie zwar nicht nachkam, die aber möglicherweise dennoch Rachegelüste in ihr geweckt hat«, meint Eisner. »Nicht zuletzt, weil John Forde offenbar einer kirchlichen Bestrafung entging.«

Ela und ihre Bande überfielen ein Kloster

Die Aristokratin und ihr Priester kannten sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit mindestens zehn Jahren, wie ein Dokument von 1322 belegt. Es handelt sich um den Untersuchungsbericht einer königlichen Kommission, die der Beschwerde eines Priors nachgegangen war. Jener Geistliche stand einem unweit des Familiensitzes der Fitzpaynes gelegenen Benediktinerkloster vor. »In dieser Beschwerde beschuldigte der Prior Ela, zusammen mit ihrem Ehemann Robert und ihrem Liebhaber John Forde sowie einigen anderen das Kloster überfallen und beraubt zu haben«, schildert Eisner in einer E-Mail an »Spektrum«. Demnach war die Bande im Jahr zuvor gewaltsam in das Kloster eingedrungen, hatte Gebäude geplündert und zerstört, Bäume gefällt, Steine aus dem Steinbruch geraubt sowie 18 Ochsen, 30 Schweine und etwa 200 Schafe und Lämmer erbeutet.

In diesem Vorfall macht der Kriminologe den Ausgangspunkt einer Kette von Entwicklungen aus, die schließlich zur Ermordung des Priesters führten. Möglicherweise war John Forde unentschieden, wem er dienen sollte: Einerseits war er der Familie Fitzpayne offenbar über Jahre hinweg eng verbunden, andererseits unterlag er als Geistlicher der Autorität des Bischofs.

»Seine Komplizenschaft bei dem Überfall auf das Kloster ist ein Anzeichen dafür, dass seine Loyalität in diesem Fall eher den Fitzpaynes als der Kirche galt, was dem Erzbischof sicher gar nicht gefiel«, so Eisner. Möglicherweise habe Forde einige Jahre nach dem Überfall ein schlechtes Gewissen geplagt, vielleicht sei er auch unter dem Druck seiner Vorgesetzten eingeknickt und habe deshalb Einzelheiten aus dem ausschweifenden Leben der Aristokratin ausgeplaudert, vermutet der Forscher.

Anfang Juni 2025 entdeckte Eisner ein weiteres Dokument, aus dem hervorgeht, dass der Geistliche Verwaltungsaufgaben für die Fitzpaynes übernommen hatte. Möglicherweise kam es wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten zum Bruch zwischen Priester und Adelsfamilie. »1336, also ein Jahr vor seiner Ermordung, wurde John Forde vom König für das Vergehen begnadigt, nicht vor dem ›Court of Common Pleas‹ erschienen zu sein, einem königlichen Gerichtshof«, erläutert Eisner. Die Angelegenheit bezog sich auf die Zeit, in der John Forde als Finanzverwalter für Sir Robert Fitzpayne arbeitete, der nun von ihm Rechenschaft verlangte. Anscheinend habe sich Forde daraufhin im Londoner Fleet Street Prison gestellt, wo vorwiegend Schuldner einsaßen.

Warum sich Ela Fitzpayne an John Forde rächte

Kaum hatte der Bischof von Elas freizügigem Lebenswandel erfahren, setzte er sie unter Druck. »Der Erzbischof nutzte die sexuelle Verleumdung als Waffe, um eine demütigende Strafe über eine hochrangige Adelige zu verhängen, die sich der moralischen Autorität der Kirche widersetzte«, fasst Eisner zusammen. Er ist überzeugt davon, dass Ela weder dem Bischof die öffentliche Demütigung noch ihrem Liebhaber den Verrat verzieh – und auf Rache sann. »Sich gedemütigt zu fühlen, führt zu Kriegen, Extremismus, Massentötungen, und hier ist es wahrscheinlich das Motiv für einen Mordanschlag«, sagt Eisner.

Erlauchte Post | Diesen Brief richtete der Erzbischof von Canterbury an den Bischof von Winchester. Es ging um die Strafen, mit denen der Erzbischof die Adelige Ela Fitzpayne belegt hat.

Ob Ela tatsächlich auch die Ermordung des Erzbischofs in Erwägung zog, ist unbekannt. Er starb bereits 1333 eines natürlichen Todes. Doch John Forde entkam ihrer Rache nicht. Gestützt auf die Quellen vermutet der Kriminologe, dass es Ela Fitzpayne war, die ihren Bruder und seine Spießgesellen mit der Ermordung ihres einstigen Liebhabers beauftragte. Die Art und Weise, wie Forde am helllichten Tag vor einer Menschenmenge öffentlich hingerichtet wurde, ähnele politischen Morden, die heute in Ländern wie Russland oder Mexiko verübt werden. »Sie sollen daran erinnern«, so Eisner, »wer die Kontrolle hat.«

In diesem Fall lag diese offenbar in den Händen einer äußerst nachtragenden Aristokratin, die sich allerdings kraft ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung über das Gesetz stellen konnte. Denn die Namen der Mörder und der Tathergang waren auch vor fast 700 Jahren bekannt gewesen. Bestraft wurde aber nur einer der Täter.

Auch Ela überstand ihre Verbrechen offensichtlich unbeschadet. Sie und ihr Gemahl Robert blieben ein Paar, bis dass sein Tod sie 1354 schied. Anfang 1356 starb auch sie. »Eine Frau im England des 14. Jahrhunderts, die Klöster überfiel, sich offen gegen den Erzbischof von Canterbury stellte und einen Mord in Auftrag gab«, staunt Eisner. »Ela Fitzpayne dürfte eine wirklich außergewöhnliche Person gewesen sein.«

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  • Quellen

Projekt »Medieval Murder Maps« der University of Cambridge

Eisner, M. et al., Criminal Law Forum 10.1007/s10609–025–09512–7, 2025

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