Bildung: Schulmathematik bereitet nicht aufs Leben vor

Abstrakter Mathematikunterricht bereitet Kinder nur ungenügend auf die Lösung alltagsweltlicher Rechenaufgaben vor. Umgekehrt sind Kinder, die ihre Rechenkünste in der realen Welt erworben haben, nur schlecht in der Lage, komplexe Mathematikaufgaben zu lösen. Zu diesem Schluss kommt eine US-amerikanisch-indische Forschungsgruppe um die Ökonomin und Wirtschafts-Nobelpreisträgerin Esther Duflo vom Massachusetts Institute of Technology. Die Fachleute befragten dazu 1436 Kinder, die in den indischen Städten Kalkutta und Delhi auf Märkten arbeiteten, sowie 471 indische Schulkinder ohne Verkaufserfahrung. Die Studienergebnisse sind im Fachmagazin »Nature« erschienen und unterstreichen nach Einschätzung der Fachleute »die Bedeutung von Lehrplänen, die die Kluft zwischen intuitiver und formaler Mathematik überbrücken«.
Mathematikunterricht ist oft stark formalisiert und orientiert sich nur wenig an den alltäglichen Herausforderungen der Lernenden. Viele Kinder und Jugendliche fragen sich, wofür sie die abstrakten Formalismen brauchen, wenn sie nicht gerade Mathematik oder damit verwandte Themen studieren wollen. Mathe landet in Befragungen zur Beliebtheit verschiedener Schulfächer meist auf den hinteren Plätzen. Würden Kinder Mathematik stärker in für sie relevanten Kontexten lernen, könnten sie sich laut der aktuellen Studie möglicherweise besser die kognitiven Fähigkeiten aneignen, die sie benötigen, um ihr mathematisches Wissen auch außerhalb der Schule zu nutzen.
Für ihre Studie testeten die Wissenschaftler zunächst die mathematischen Fähigkeiten von 201 Kindern auf einem Markt in Kalkutta im indischen Bundesstaat Westbengalen. Ohne sich zu erkennen zu geben, verwickelten sie ihre Probanden in ein Verkaufsgespräch und fragten etwa, wie viel 800 Gramm Kartoffeln kosten, die zu 20 Rupien pro Kilogramm angeboten werden, oder wie teuer 1,4 Kilogramm Zwiebeln zu 15 Rupien das Kilogramm sind. Dann fragten sie nach den Gesamtkosten (in diesem Fall 37 Rupien), bevor sie dem Kind einen 200-Rupien-Schein aushändigten und das Wechselgeld kassierten. Jeder dieser Schritte diente dazu, die Rechenfertigkeiten der Kinder zu messen.
Ineffiziente schriftliche Berechnungen
Anschließend gaben die Forschenden ihre Identität preis und baten die Teilnehmer, eine Reihe von abstrakten Rechenaufgaben zu lösen. Das bereitete den Kindern unerwartet große Schwierigkeiten; nur etwa 50 Prozent konnte die gestellten Aufgaben im ersten Versuch korrekt bewältigen. Ganz ähnlich gingen die Forscher bei weiteren 400 Kindern auf Märkten in der indischen Hauptstadt Delhi vor, um regionale Unterschiede auszuschließen. In einer dritten Runde befragten sie nochmal 835 Kinder. Außerdem überprüften sie, dass sich die Leistung nicht mit Auswendiglernen, Zugang zu Hilfe, geringerem Stress durch vertrautere Formate oder hohe Anreize für korrekte Leistung erklären lässt.
Die 471 Schulkinder ohne Markterfahrung zeigten hingegen ein gegenteiliges Muster. Sie erreichten bei einfachen abstrakten Aufgaben eine deutlich höhere Genauigkeit, waren jedoch nur zu einem sehr geringen Prozentsatz in der Lage, eine alltagsnahe Marktmathematikaufgabe richtig zu beantworten, die mehr als ein Drittel der arbeitenden Kinder ohne größere Schwierigkeiten löste. Die Schulkinder hätten zudem sehr ineffiziente schriftliche Berechnungen verwendet, konnten verschiedene Operationen nicht miteinander kombinieren und seien zu langsam zu ihren Antworten gekommen, heißt es.
Auch wenn diese konkrete Studie auf den Fähigkeiten indischer Kinder und dem indischen Schulsystem beruht – und daher nicht ohne Weiteres auf andere Länder übertragbar ist –, zeigen die Ergebnisse doch, dass Lehrpläne abstrakte mathematische Symbole und Konzepte mit intuitiv sinnvollen alltagsnahen Kontexten und Problemen verbinden sollten. So zitieren die Studienautoren ergänzend eine ältere Forschungsarbeit aus Brasilien, die darauf hindeutete, dass sich die Schulabbruchquote an öffentlichen Gymnasien verringern lässt, wenn Mathematik in vertrauten Kontexten präsentiert wird. »Ein Lehrplan, der intuitives und abstraktes Mathematikmaterial miteinander verbindet und die Kinder dazu bringt, beides abwechselnd in Gruppenspielen zu üben, kann dauerhafte Auswirkungen sowohl auf ihre schulischen als auch auf ihre intuitiven Mathematikfähigkeiten haben«, schließen sie in ihrem Fazit.
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