Gender-Gap: Der Moment, in dem Mädchen in Mathematik zurückbleiben

Jungen und Mädchen erzielen zu Beginn der Schulzeit ähnliche Ergebnisse im Mathematikunterricht, doch schon nach vier Monaten liegen die Jungen vor den Mädchen – und diese Kluft zwischen den Geschlechtern verstärkt sich über die Jahre. Warum das so ist, ist seit Langem Gegenstand der Forschung, denn im Kleinkindalter haben Jungen weder ein besseres Gefühl für Zahlen noch ein besseres Verständnis für Logik als Mädchen. In einer groß angelegten Studie mit französischen Schulkindern zeigt ein Forschungsteam um Pauline Martinot von der Université Paris Cité nun, dass der Beginn der formalen Bildung und damit die Schule für die Kluft verantwortlich zu sein scheint.
Das Team analysierte Daten von knapp drei Millionen Kindern in Frankreich, die von 2018 bis 2021 eingeschult wurden. Die Mathematiktests umfassten Ziffernerkennung, Zählen, Zahlenvergleich, Zahlenstrahlkenntnisse, Problemlösung, Rechnen und Geometrie. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Matheleistung nahmen laut der im Fachmagazin »Nature« publizierten Forschungsarbeit eher mit der Länge der Schulbildung zu als mit dem Alter. Und der Befund gilt für das gesamte Land: Die Kluft ist in allen Kohorten, sozioökonomischen Gruppen, Regionen Frankreichs und Schultypen zu beobachten. »Wenn wir verhindern wollen, dass Mädchen zurückbleiben, müssen wir uns also auf ihre frühen Erfahrungen in der Schule konzentrieren«, sagt die Psychologin Jillian Lauer von der University of Cambridge.
In Frankreich werden die Kinder im September des Kalenderjahres, in dem sie sechs Jahre alt werden, eingeschult. Um ihre These zu überprüfen, verglichen die Forscher Kinder, die nur wenige Tage auseinander geboren wurden, aber in unterschiedlichen Schuljahren sind. Dabei zeigte sich: Der geschlechtsspezifische Unterschied war bei Jungen und Mädchen, die im Dezember geboren wurden und im zweiten Schuljahr sind, vorhanden, nicht aber bei fast Gleichaltrigen, die nur wenige Tage später, im Januar, geboren wurden und gerade erst eingeschult worden waren.
Rollenklischees werden in der Schule verstärkt
Das legt den Forschenden zufolge nahe, dass die Ursachen eher im soziokulturellen Umfeld zu suchen sind als in der Biologie. »Es könnte einen biologischen Faktor geben, den wir noch nicht eindeutig mit Mathematik oder räumlichem Denken in Verbindung bringen konnten«, sagt Psychologin Lauer. »Aber diese Studie deutet darauf hin, dass die Erfahrungen, die die Kinder mit der Welt gemacht haben, eine größere Rolle spielen als alles andere.«
Die Ergebnisse seien »sehr interessant und wichtig«, darunter besonders das Aufzeigen eines Zeitpunkts, an dem Geschlechtsunterschiede entstehen, sagt Lena Keller vom Institut für Pädagogisch-Psychologische Lehr- und Lernforschung der Universität Kiel laut der Deutschen Presseagentur. Dies sei neu und »stellt einen wichtigen Beitrag zur Forschung zur Entwicklung von Geschlechtsunterschieden dar«.
»Wir sollten die Schulbildung erweitern und nicht nur alle Mädchen zu Jungen machen wollen«Meghna Nag Chowdhuri, Bildungsforscherin
Als möglichen Grund für die Resultate nennen die Studienautoren, dass Lehrer und Eltern das gesellschaftliche Klischee vermitteln, Jungen seien in Mathematik von Natur aus besser als Mädchen – oder auch unbewusst die These vertreten, der Erfolg von Jungen beruhe eher auf Talent und der von Mädchen eher auf harter Arbeit, was das Selbstvertrauen der Mädchen untergräbt. Mädchen neigten auch dazu, mehr Angst vor Mathematik zu haben als Jungen, was sie etwa darin beeinträchtige, unter Zeitdruck gut in Mathematiktests abzuschneiden.
Es könne daher notwendig sein, die Kriterien zur Bewertung von Leistungen im Matheunterricht zu erweitern, sagt die Bildungsforscherin Meghna Nag Chowdhuri vom University College London. So könnte etwa die besonders schnelle Beantwortung einer Frage im Mathematikunterricht der 1. Klasse belohnt werden, aber genauso die Suche nach einer innovativen Lösung für ein Problem. »Wir sollten die Schulbildung erweitern«, sagt Chowdhuri, »und nicht nur alle Mädchen zu Jungen machen wollen.«
Martinot und ihre Kollegen fordern angesichts ihrer Befunde, die Lücke so früh wie möglich in der Ausbildung der Kinder zu schließen, und machen eine Reihe von Vorschlägen. »Die Verbesserung der Lehrerausbildung dürfte zweifellos einer der wirksamsten Hebel sein«, schreiben die Forschenden. Lehrkräfte sollten beispielsweise mit gesellschaftlichen Rollenbildern brechen, ihre Vorurteile abtrainieren und Mädchen genauso oft wie Jungen zur Teilnahme am Unterricht ermutigen. Ebenfalls sollten Erzieher und Eltern den Kindern vorab die Angst vor Mathematik nehmen und auch außerhalb des Klassenzimmers ihre Neugier und Problemlösefähigkeiten fördern. »Wir dürfen angesichts dieser Ergebnisse nicht untätig bleiben«, sagt Studienleiterin und Neurowissenschaftlerin Pauline Martinot von der Université Paris Cité. »Das wäre unethisch.« Und vor allem müssten Interventionen früh ansetzen – bevor Mädchen das Vertrauen in ihre Fähigkeiten verlieren.

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