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Paläogenetik: Auferstanden aus Fossilien

Genetisches Material aus Fossilien verrät viel über das Leben vor Millionen von Jahren. Dank neuer Analysemethoden entsteht ein ungeahnt scharfes Bild von der Pflanzen- und Tierwelt vergangener Zeiten.
Die Illustration zeigt eine Landschaft, wie sie vor zwei Millionen Jahren an der Kap-København-Formation im Norden Grönlands ausgesehen haben könnte: ein Wald bevölkert von Mastodonten, Hasen und Rentieren, bei Temperaturen deutlich wärmer als heute.
Durch die Analyse von DNA aus einem Permafrostboden ließen sich zahlreiche Pflanzen und Tiere identifizieren, die vor zwei Millionen Jahren im Norden Grönlands gelebt hatten. Die Illustration zeigt, wie die Landschaft damals ausgehen haben könnte: mit Birken und Pappeln durchsetzte Wälder, in denen Mastodonten, Karibus, Hasen und Lemminge umherstreiften.

Ein eiszeitliches Ökosystem, rekonstruiert ausschließlich anhand von DNA aus dem Permafrostboden – dieses Glanzstück gelang Genetikerinnen und Geowissenschaftlern im Jahr 2022. Es offenbarte sich eine erstaunliche Vielfalt von Pflanzen und Tieren an Land und im Wasser. Das Team unter der Leitung von Kurt Kjær von der Universität Kopenhagen hatte Proben aus der Kap-København-Formation in Nordgrönland gesammelt, einer Sedimentzone aus dem Pleistozän. Hier hatten zwei Millionen Jahre lang Sedimente eines »borealen« (klimatisch kaltgemäßigten) Ökosystems ungestört geschlummert – begraben und eingefroren im ewigen Eis. Das Alter des Erbguts übertraf den früheren Rekord eines etwa 1,6 Millionen Jahre alten Mammutzahns und verschob damit die bis dahin bekannte maximale Haltbarkeit von DNA deutlich.

Aufgerollt im Zellkern misst ein Strang menschlicher DNA gerade einmal 0,005 Millimeter. Dieser extrem komprimierte Bauplan enthält alle Anweisungen für die Entwicklung eines Menschen. DNA ist allerdings äußerst empfindlich: Schon bald nach dem Tod eines Organismus beginnt sie sich zu zersetzen und wird unter ungünstigen Verhältnissen binnen weniger Tage vollständig abgebaut. Die allermeisten Fossilien enthalten daher nicht die geringste Spur der ursprünglichen DNA. Doch wenn die Bedingungen stimmen, kann das Molekül Hunderte, Tausende oder sogar Millionen von Jahren stabil bleiben. Kälte und Trockenheit sind ideal für die Konservierung, und das Kap København gilt als einer der wenigen Orte weltweit, an denen der Boden seit Beginn des Pleistozäns dauerhaft gefroren blieb.

Als Kjær und seine Kollegen die Permafrostproben im Labor auftauten, entfaltete sich eine faszinierende Momentaufnahme des Lebens aus einer lange zurückliegenden Zwischeneiszeit, in der Grönland weitgehend frei von Eisschilden war. Anstatt nach Knochen oder DNA einzelner Arten zu fahnden, hatten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Massenproben verarbeitet, aus denen sie Millionen von DNA-Fragmenten isolierten, sortierten und rekonstruierten, um daraus einen genetischen Zensus der Gesamtheit der Organismen zu erstellen, die einst am Fundort gelebten hatten. Mittels sorgfältiger Prüfung der Fragmente zum Ausschluss von Verunreinigungen und im Vergleich mit den Erbgutsequenzen heute lebender Arten konnten sie mehr als 100 Pflanzen sowie neun Tiere identifizieren. Vor dem geistigen Auge der Fachleute entstand ein Bild von Karibus, Lemmingen und Mastodonten, die eine Landschaft mit Birken- und Pappelwäldern durchstreiften (siehe »Artenvielfalt im Permafrost«).

Artenvielfalt im Permafrost | Die Kap-København-Formation in Nordgrönland ist seit dem frühen Pleistozän gefroren. Die aus dem Permafrostboden extrahierte DNA enthüllte eine artenreiche Tier- und Pflanzenwelt: von winzigen Planktonorganismen im Meer bis hin zu Mastodonten an Land.

Mastodonten sind aus Fossilien der gemäßigteren Regionen Nord- und Mittelamerikas bekannt, doch so weit nördlich – lediglich 850 Kilometer vom Nordpol entfernt – waren noch nie Spuren dieser Rüsseltiere aufgetaucht. Im Gegensatz zu ihren Verwandten, den Wollhaarmammuts, die als Weidegänger in der Tundra lebten, ernährten sich Mastodonten von verschiedenen Teilen des Buschwerks. Um zu überleben, benötigten sie ein robustes Waldökosystem. Heute gibt es auf Grönland nur noch einen einzigen natürlichen Wald, der im Qinngua-Tal an der Südspitze der Insel liegt. Der Fund von Mastodonten bedeutet, dass auf der Insel während des Pleistozäns Wälder viel größere Flächen als heute bedeckten. Die Herkunft der polaren Mastodonten ist nach wie vor unklar. Um Grönland zu erreichen, mussten sie das Meer überqueren – entweder indem sie von nahe gelegenen Inseln vor der kanadischen Küste hinüberschwammen oder indem sie im Winter über das Meereis marschierten.

Es entstand ein Bild von Karibus, Lemmingen und Mastodonten, die eine Landschaft mit Birken- und Pappelwäldern durchstreiften

So unerwartet der Fund von Mastodonten auch war, der am wenigsten erwartete DNA-Treffer betraf ein Tier, das kaum als typischer Vertreter eiszeitlicher Fauna gelten kann: den Pfeilschwanzkrebs. Der Fundort scheint an einer ehemaligen Flussmündung gelegen zu haben, wo Meeresorganismen weit ins Landesinnere gespült werden konnten. An der Identifikation der Pfeilschwanzkrebs-DNA gab es keine Zweifel. Diese Wesen hatten sich in der Evolution schon vor Hunderten von Millionen Jahren von den anderen heute noch lebenden wirbellosen Tieren abgespalten, was ihnen eine einzigartige genetische Signatur verleiht. Eine Kontamination kann ausgeschlossen werden, da im heutigen Permafrost keine Pfeilschwanzkrebse herumkrabbeln oder sich ins Labor geschlichen haben könnten.

Der Nachweis fossiler DNA eines Pfeilschwanzkrebses nördlich des Polarkreises erlaubt auch Rückschlüsse auf prähistorische Klimaveränderungen. Da diese Gliederfüßer heute nur selten nördlich des US-Bundesstaats Maine auftauchen, spricht ihr fossiles Vorkommen auf Grönland dafür, dass es hier im frühen Pleistozän erstaunlich warm gewesen sein muss. Die Wassertemperaturen lagen wahrscheinlich etwa fünf Grad Celsius höher als heute, so dass die Tiere an eisfreien Stränden ihre Eier legen konnten.

Die Sequenzierung der DNA eines Ökosystems, das vor Millionen von Jahren existierte, zeigt eindrucksvoll, was die moderne Genanalyse zu leisten vermag. Ähnliche Techniken werden auch anderswo angewandt. Mit immer raffinierteren Labormethoden extrahieren Paläontologen und Molekularbiologen uralte DNA-Sequenzen längst ausgestorbener Organismen, von Mikroben bis zu Mammuts. Indem Fachleute prähistorische DNA aus Knochen, Häuten und Eierschalen einzelner Tiere gewinnen, ist es tatsächlich möglich geworden, umfangreiche archaische Ökosysteme aus einfachen Bodenproben zu rekonstruieren.

Der erste Durchbruch

Die Gewinnung von Erbgut aus Organismen, die vor Millionen von Jahren gelebt haben, blieb bis 1984 noch undenkbar, als der Molekularbiologe Russell Higuchi von der University of California in Berkeley und seine Kollegen von der ersten erfolgreichen DNA-Extraktion aus einer historischen Gewebeprobe berichteten. Die Forscherinnen und Forscher hatten Hautproben eines Mainzer Museumsexemplars des ausgestorbenen Steppenzebras (Equus quagga quagga) entnommen. Diese einst in Südafrika weit verbreiteten Huftiere ähnelten einer Kreuzung aus Pferd und Zebra: Vor allem an Kopf und Hals war ihr Fell gestreift, am hinteren Teil des Körpers dagegen ungemustert. Da die europäischen Siedler Quaggas für eine Plage hielten – sie fraßen dieselben Pflanzen wie ihr Weidevieh –, jagten sie die Tiere unerbittlich. Wilde Quaggas wurden zuletzt 1878 gesichtet, und das letzte in Gefangenschaft lebende Exemplar starb 1883 im Amsterdamer Zoo.

Ein Mix aus Zebra und Pferd | Quaggas waren einst in Südafrika weit verbreitet, bevor sie Ende des 19. Jahrhunderts ausgerottet wurden. Von dem zebraartigen Tier existieren heute nur noch wenige Fotos. Hier eine Aufnahme in den Gärten der Zoologischen Gesellschaft aus dem Jahr 1875.

Nach paläontologischen Maßstäben war die Zebrahaut mit nur 140 Jahren zwar nicht besonders alt, doch die bahnbrechende Studie lieferte den Beweis dafür, dass es möglich ist, intakte DNA eines Lebewesens noch lange nach seinem Tod zu rekonstruieren. Die Haut des Tiers war mit Salz konserviert; das entnommene Stück Muskelgewebe sah wahrscheinlich aus wie trockenes Pferdefleisch. Higuchis Team extrahierte kurze DNA-Stränge aus den Mitochondrien der Muskelzellen und baute diese in ringförmige Plasmide des gewöhnlichen Kolibakteriums Escherichia coli ein. Die Bakterien dienten als winzige Fabriken, welche die Quagga-DNA so oft vervielfältigten, bis genügend Kopien zur Analyse vorhanden waren. Es ergab sich eine Sequenz von lediglich 229 Basenpaaren mitochondrialer DNA. Zum Vergleich: Das vollständige Genom eines Zebras umfasst wahrscheinlich mehr als 2,5 Milliarden Bausteine. Aber die Tatsache, dass die Haut eines Museumspräparats teils intakte DNA enthielt, war eine Erkenntnis, die völlig neue Möglichkeiten eröffnete. Nun begann ein Wettlauf um die Entschlüsselung immer älterer DNA.

Die Bedingungen, unter denen ein totes Tier begraben wird, bestimmen wesentlich darüber, wie lange DNA-Spuren nachweisbar bleiben. Im Allgemeinen wirkt sich eine kalte und trockene Umgebung günstig auf die Konservierung aus. Ein ausgetrockneter Kadaver in einer kühlen, dunklen Höhle dürfte eher Erbgutreste enthalten als Knochen aus einem tropischen Sumpf. Unabhängig davon bleibt die Extraktion und Interpretation sehr alter DNA-Spuren knifflig. Fossilien können durch das genetische Material anderer Organismen, die im gleichen Sediment leben, verunreinigt werden. Wenn Forscher die Proben im Labor berühren oder auch nur anhauchen, besteht ebenfalls ein Kontaminationsrisiko. Viele angeblich uralte »DNA-Funde« aus den 1990er Jahren hielten einer genaueren Untersuchung nicht stand und entpuppten sich im Nachhinein als Artefakte auf Grund von Verunreinigungen. Der vielleicht bekannteste Fall betraf die vermeintlich aus 80 Millionen Jahre alten Dinosaurierknochen gewonnenen Sequenzen, die sich schließlich als Fragmente menschlichen Erbguts herausstellten. Berichte über DNA von Insekten aus 20 Millionen Jahre altem Bernstein sowie über Erbgut von Bakterien in 250 Millionen Jahre alten Salzablagerungen sorgten ebenfalls für Schlagzeilen. Doch alle Versuche, diese Ergebnisse zu reproduzieren, scheiterten.

Viele angeblich uralte »DNA-Funde« entpuppten sich als Artefakte auf Grund von Verunreinigungen

Neuartige Labortechniken, hoch entwickelte Geräte und raffinierte Computeranalysen bieten heute einen immer besseren Schutz vor Artefakten, so dass nicht nur kleine DNA-Schnipsel, sondern komplette Genome analysiert werden können. Während frühere Techniken extrem arbeits- und zeitintensiv waren, schaffen es Fachleute mit den modernen Methoden, zahlreiche DNA-Abschnitte parallel zu sequenzieren und diese binnen kürzester Zeit zusammenzusetzen.

Der erste Schritt besteht darin, eine Gewebeprobe zu Pulver zu zermahlen und aufzulösen. Die alte DNA lässt sich dann durch Zentrifugieren, Zugeben von Bindungspuffern sowie Filtrieren der entstehenden Lösung gewinnen. Die intakten Fragmente werden anschließend mittels Erhitzens in Einzelstränge getrennt. Danach fügen die Forscher Primer hinzu – kurze Moleküle, die sich an die Stränge anlagern und den Ausgangspunkt für die Vervielfältigung der DNA bilden. Die daraus entstehenden zahlreichen Stücke werden wie Puzzleteile nach und nach zusammengebaut, um die vollständige Sequenz zu erhalten. Dabei stellen Verunreinigungen stets eine große Herausforderung dar. DNA von anderen Arten kann versehentlich in die Probe geraten und somit als falsche Teile in der Puzzleschachtel landen.

Sequenziergeräte der jeweils neuesten Generation helfen beim Aussortieren der unpassenden Teile. Das Gerät kartiert, wo sich bestimmte kurze DNA-Sequenzen im kompletten Genom wahrscheinlich befinden, indem es sie mit einem Referenzgenom einer nah verwandten heute lebenden Art vergleicht. So ähneln DNA-Fragmente eines Mammuts sehr dem Erbgut eines Asiatischen Elefanten. Dieser Vergleich hilft bei der Sichtung der gewonnenen Schnipsel: Eine ausgeprägte Fehlpassung bedeutet, dass es sich bei dem Stück höchstwahrscheinlich um eine Verunreinigung handelt. »Kann-Fragmente« mit geringfügigen Unterschieden zur Sequenz eng verwandter Spezies deuten auf Mutationen hin, oder es handelt sich ebenfalls um eine Kontamination. Diese Stücke werden beiseitegelegt, um sie später genauer zu untersuchen, während sich das übrige Bild weiterentwickelt. Schließlich passt das Puzzle mehr oder weniger vollständig zusammen und liefert eine genetische Momentaufnahme einer ausgestorbenen Art.

Spuren eines Massakers

Meine erste Begegnung mit der Welt der alten DNA brachte mir ein verwitterter Pinguinschädel. 2018 besuchte ich das neuseeländische Museum Te Papa Tongarewa in Wellington, um dessen Fundus ausgestorbener Vögel zu begutachten – darunter einen bemerkenswerten Schädel eines Pinguins. Als ich das spröde Gebilde vorsichtig aus seiner Archivbox hob, nahm ich verblüfft wahr, wie leicht es war. Fossile Knochen sind in der Regel sehr dicht; aber dieses Exemplar hatte nur etwa 500 Jahre lang in der Erde gelegen – zu kurz für eine vollständige Fossilisation und daher als so genanntes Subfossil nur teilweise versteinert. Verschlissen von den Naturgewalten, fühlte es sich an wie ein ausgetrocknetes Stück Treibholz.

Das vermeintlich unscheinbare Gebilde erwies sich als ausgesprochen kostbar – zeugte es doch von einem tragischen Ereignis, das die Geschichtsschreibung ignoriert hatte: der Ausrottung einer Pinguinart durch den Menschen. Paläontologen hatten den Schädel 1993 in einer Sanddüne auf Chatham Island entdeckt, der größten Insel im Archipel der Chathaminseln, etwa 800 Kilometer östlich der Südinsel Neuseelands. Zahlreiche weitere Knochen konnten die Forscher in der Nähe auflesen, darunter in Abfallhaufen, wo Jäger einst die Überreste geschlachteter Tiere zurückgelassen hatten.

Das vermeintlich unscheinbare Gebilde zeugte von einem tragischen Ereignis: der Ausrottung einer Pinguinart

Die in den Sammlungen von Te Papa gestapelten Kisten enthalten Flossen- und Beinknochen, von denen etliche kleine kreisförmige Löcher aufweisen, wo Fachleute Knochenscheiben für DNA-Proben herausgebohrt haben. All diese Knochen schienen von der Gattung der Schopfpinguine (Eudyptes) zu stammen, zu der auch die heutigen Goldschopf- und Felsenpinguine gehören. Da heute auf den Chathaminseln keine Schopfpinguine brüten, gehörten die Knochen wahrscheinlich zu einer bisher unbekannten Art. Fast drei Jahrzehnte lang blieb der Vogel unidentifiziert. Die heute lebenden Schopfpinguinspezies lassen sich zwar anhand der Farbe und Anordnung ihrer leuchtend goldenen Kopffedern leicht voneinander unterscheiden, sie nur auf Grund der Skelettmerkmale auseinanderzuhalten, ist aber bei einigen Arten fast unmöglich. Daher sollten nun die kleinen Knochenscheiben die Antwort liefern. Während ich die Morphologie der Knochen untersuchte, analysierte meine Kollegin und Expertin für Pinguingenetik Theresa Cole, die damals an der neuseeländischen University of Otago arbeitete, deren DNA.

Pinguinschädel | 1993 wurden auf Chatham Island 500 Jahre alte Knochen eines Pinguins gefunden.
Subfossiler Schultergürtel | Das runde Loch im Schultergürtelknochen des Pinguins ist die Stelle, an der Forscher eine Probe entnahmen, um die DNA des Vogels zu analysieren. Wie die DNA-Analyse des Vogelknochens ergab, handelte es sich um eine ausgestorbene Schopfpinguinart, die den Namen Eudyptes warhami erhielt.

Unter der Leitung von Cole gelang es unserem Team, einen Großteil des mitochondrialen Erbguts des geheimnisvollen Pinguins zu rekonstruieren. Mitochondriale DNA eignet sich hervorragend für Studien an älteren Funden, denn die meisten tierischen Zellen verfügen über eine große Anzahl von Mitochondrien, die jeweils eigene DNA-Pakete in sich tragen. Im Gegensatz zum Zellkern mit seinen beiden Chromosomensätzen kann daher eine einzige Zelle Tausende von Kopien des mitochondrialen Genoms besitzen. Wie die Analyse der aus den subfossilen Knochen gewonnenen mitochondrialen DNA nun offenbarte, handelte es sich um eine bislang unbekannte Pinguinart, die sich vor fast zwei Millionen Jahren von der Erblinie der anderen Schopfpinguine abgespalten hatte. Wir nannten die neue Spezies Eudyptes warhami, zu Ehren von John Warham (1919–2010), einem Pionier der Erforschung von Schopfpinguinen.

Die Entdeckung war aufregend und traurig zugleich. Homo sapiens hatte Eudyptes warhami in kürzester Zeit ausgelöscht. Die jüngsten Knochen stammen aus der Zeit um 1500, als Menschen vermutlich zum ersten Mal auf den Chathaminseln siedelten. Nachdem die Jäger die Brutstätten bemerkt hatten, könnten sie die Pinguine innerhalb einer einzigen Generation abgeschlachtet haben. Vor dieser Entdeckung hatte ich in meinen Vorlesungen oft betont, wie bemerkenswert es sei, dass der Mensch niemals Pinguine ausgerottet habe – im Gegensatz zu so vielen flugunfähigen Vögeln, die mit der Ausbreitung des Menschen über den Erdball ausstarben. Eudyptes warhami zeigte, dass die Pinguine doch nicht ganz verschont geblieben waren.

Rieseneier als Zeitkapseln

Die DNA-Analyse bietet die Möglichkeit, weitere ausgestorbene Arten zu studieren – nicht nur unbekannte Arten wie Eudyptes warhami, sondern auch solche, die lange Zeit ein paläontologisches Rätsel darstellten, wie die Elefantenvögel. Mit einem geschätzten Gewicht von mehr als 400 Kilogramm gilt Aepyornis maximus als größter Vogel aller Zeiten. Diese flugunfähigen Riesen überragten alle anderen Landtiere auf Madagaskar, bis sie vor etwa 1000 Jahren durch den Menschen ausgerottet wurden. Die zur Unterklasse der Urkiefervögel (Palaeognathae) gehörenden Tiere hielt man lange Zeit für Verwandte der Strauße, die in vielen Teilen des afrikanischen Kontinents vorkommen. Da ihre Lebensräume über die Straße von Mosambik hinweg benachbart sind, lag es nahe, dass Strauße und Elefantenvögel eng miteinander verwandt sein könnten.

Um diese These zu überprüfen, nutzte 2014 ein Team unter der Leitung von Alan Cooper von der University of Adelaide in Australien einige Bruchstücke mitochondrialer DNA-Sequenzen von etwa 1000 Jahre alten subfossilen Elefantenvogelknochen. Dabei erlebten die Forscher eine faustdicke Überraschung: Die nächsten lebenden Verwandten der Giganten waren nicht Strauße, sondern – Kiwis. Diese in Neuseeland beheimateten nachtaktiven Tiere, die nicht größer als ein Basketball sind, hatte man nie als Verwandte der riesigen Elefantenvögel in Erwägung gezogen. Doch die DNA lieferte einen handfesten Beweis dafür, dass die Vorfahren jener flugunfähigen Vögel es irgendwie auf Inseln geschafft hatten, die durch Tausende von Kilometern offenen Ozeans getrennt waren.

Obwohl das aus den Knochen extrahierte Erbgut spannende Ergebnisse lieferte, waren die Sequenzen zu unvollständig, um das ganze Bild zu enthüllen. Das tropische Klima auf Madagaskar bietet ungünstige Bedingungen für die Erhaltung fossiler DNA. Viele Museumssammlungen beherbergen Knochen von Elefantenvögeln, aber in der Regel haben jahrelange Hitze und Feuchtigkeit dafür gesorgt, dass die verbliebene DNA zerfallen ist. Die stark unterschiedliche Größe der Skelette führte wiederum zu langwierigen Debatten über die tatsächliche Anzahl der Elefantenvogelspezies. Im Lauf der Jahre wurden zwar mehr als ein Dutzend Arten benannt, doch einige Paläontologen vermuteten schon länger, dass es sich oft nur um besonders große oder kleine Individuen von bereits bekannten Spezies handelte. Die Sequenzierung der DNA unterschiedlich großer Exemplare sollte diese Debatte endlich beenden. Nachdem die Forschung an Knochen in eine Sackgasse geraten war, begann ein Team unter der Leitung von Alicia Grealy von der Curtin University in Perth (Australien) mit anderen Objekten zu arbeiten: Eierschalen.

Schalentrümmer | Aus den etwa 1000 Jahre alten Eierschalen von ausgestorbenen flugunfähigen Elefantenvögeln konnten Forscher Proben mitochondrialer DNA entnehmen und analysieren. Dabei offenbarte sich, dass auf Madagaskar nicht – wie zuvor angenommen – sehr zahlreiche, sondern wahrscheinlich nur drei verschiedene Spezies der Vögel gelebt hatten.

Eier von Elefantenvögeln sind bekannt für ihre enorme Größe: Sie können das 150-fache Volumen eines Hühnereis aufweisen. Ein solches Riesenei benötigt eine dicke Schale, um den Inhalt gut zu schützen. Anders als tierische Knochen wirkt das Schalenmaterial als effiziente Barriere gegen Feuchtigkeit und Sauerstoff und kann damit den Abbau von DNA im Innern des Eis verzögern.

Größere und kleinere Elefantenvögel waren keine verschiedenen Spezies, sondern Männchen und Weibchen einer einzigen Art

Grealys Team extrahierte DNA aus 1000 Jahre alten Elefantenvogeleiern und gewann in mühevoller Kleinarbeit 960 Erbgutfragmente, von denen 21 mitochondriale DNA enthielten. Überraschenderweise fanden die Forscher für lediglich drei Arten von Elefantenvögeln Belege. Ihre Schlussfolgerung: Größere und kleinere Individuen, die man früher für verschiedene Spezies gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Männchen und Weibchen einer einzigen Art. Da das mitochondriale Erbgut keine Geschlechtschromosomen enthält, ließ sich das Geschlecht der Individuen nicht feststellen. Bei heute lebenden Emus bebrüten allerdings die Männchen das Nest und sind kleiner als die Weibchen. Bei den Elefantenvögeln könnte es laut den Forschern genauso gewesen sein, zumal auch bei den Kiwis die Weibchen etwas größer als die Männchen sind. Eine starke Größendifferenz dürfte sich entwickelt haben, um die Gefahr zu verringern, dass brütende Väter die Eier zerquetschen.

Das Ende der Schattenwölfe

Alte DNA gibt auch Einblicke in das Leben eines anderen beeindruckenden Wesens: des Schattenwolfs. Diese Tiere werden oft für fiktive Kreaturen gehalten, vor allem seit sie in der Fernsehserie »Game of Thrones« auftauchten. Doch es gab sie tatsächlich. Sie gehörten zu den größten Raubtieren Nordamerikas, als Menschen zum ersten Mal durch Überquerung der Beringlandbrücke hierhin gelangten. Schattenwölfe besaßen größere Köpfe als die heutigen Wölfe und waren etwa doppelt so schwer, was sie wohl recht bedrohlich erscheinen ließ. Paläontologen glauben, dass sie Beutetiere mit den Ausmaßen von Mastodonten jagten. Vor etwa 10 000 Jahren, als menschliche Jäger einen Großteil der nordamerikanischen Megafauna auslöschten, verschwanden auch sie.

Riesige Räuber | Die aus Fantasy-Geschichten bekannten »Schattenwölfe« gab es tatsächlich. Sie waren etwa doppelt so groß wie heutige Wölfe. Die Illustration zeigt die beiden Arten bei einem Kampf um einen Bisonkadaver in einer eiszeitlichen Landschaft in Nordamerika.

Entgegen der Darstellung als Bestien der Tundra in Fantasy-Welten lebten die Schattenwölfe südlich der heutigen Grenze zwischen den USA und Kanada. Die meisten bekannten Fossilien stammen aus den Asphaltgruben La Brea Tar Pits in Los Angeles, einer der reichhaltigsten Fossillagerstätten des Pleistozäns mit Tausenden von Skeletten von Wölfen, die hier einst verendeten. Der amerikanische Paläontologe, Anatom und Pionier der Forensik Joseph Leidy (1823–1891) gab den Urwölfen 1858 den wissenschaftlichen Namen Canis dirus (lateinisch: canis = Hund; dirus = schrecklich) und ordnete sie damit der gleichen Gattung zu wie die modernen Wölfe (Canis lupus) und Hunde (Canis familiaris). Fast alle späteren Wissenschaftler folgten Leidys Argumentation; einige behaupteten sogar, der Schattenwolf sei einfach eine größere Form von Canis lupus gewesen.

Diese Hypothese wurde 2021 widerlegt. Einem internationalen Team unter Leitung der Archäologin Angela Perri, damals an der englischen Durham University, gelang es, aus fünf fossilen Knochen das mitochondriale Erbgut sowie einen kleinen Teil des Kerngenoms des Schattenwolfs zu sequenzieren. Erstaunlicherweise erwiesen sich die Tiere als nur entfernte Verwandte heutiger Wölfe: Wie die Ergebnisse zeigten, spalteten sie sich vor fünf bis sechs Millionen Jahren vom Stammbaum der Caniden ab, noch bevor Schakale, Afrikanische Wildhunde, Rothunde, Kojoten und Wölfe eigenständige Wege in der Evolution gingen. Auf Grund dieser Entdeckung nahm das Team den Schattenwolf aus der Gattung Canis heraus und ordnete ihn in die Gattung Aenocyon (griechisch: ainos = schrecklich; kyōn = Hund) ein (siehe »Stammbaum der ›Schrecklichen Hunde‹«).

Stammbaum der »Schrecklichen Hunde« | Lange Zeit glaubten Zoologen, der Schattenwolf sei eng mit Wölfen und anderen Tieren der Gattung Canis verwandt. Genetische Analysen erwiesen jedoch, dass sich der eindrucksvolle Spitzenräuber bereits vor fünf bis sechs Millionen Jahren vom Stammbaum der Canidae abspaltete und in eine eigene Gattung, Aenocyon, eingeordnet werden muss. Das Fehlen naher Verwandter, mit denen er sich hätte kreuzen können, dürfte zu seinem Aussterben beigetragen haben – kurz nachdem der Mensch vor etwa 10 000 Jahren Nordamerika erreichte.

Diese Erkenntnisse sind von großer Bedeutung für das Verständnis der Vorgänge im späten Pleistozän Nordamerikas, als mehr als 70 Prozent der Megafauna des Kontinents ausstarben – darunter Säbelzahnkatzen, Riesenfaultiere und Mammuts. Wölfe und Kojoten überlebten, doch ihre archaischen Verwandten verschwanden. Eine mögliche Erklärung hierfür liegt in der unterschiedlichen Flexibilität der Ernährung: Wölfe und Kojoten jagen zwar große Beuteorganismen, verschmähen aber auch Nagetiere, Vögel sowie Aas nicht und plündern heutzutage sogar bei Gelegenheit gern menschliche Abfälle. Aenocyon dirus mit seinem enormen Schädel könnte dagegen vornehmlich auf große Beute wie Faultiere oder Kamele spezialisiert gewesen sein, die mit der Ausbreitung des Menschen in Nord- und Südamerika ausstarben. Diese Schlussfolgerung scheint klar und eindeutig. Doch Sequenzen fossiler DNA deuten darauf hin, dass auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben könnten.

Infektionen könnten zum Aussterben der »schrecklichen Hunde« beigetragen haben

Wie Leser von Jack Londons Romanklassiker »Wolfsblut« wissen, kreuzen sich Wölfe und Haushunde gelegentlich, wenn sie in freier Wildbahn miteinander in Kontakt geraten. Das Gleiche gilt für Kojoten und Hunde sowie für Kojoten und Wölfe. Diese Durchmischung erleichtert die Introgression, also die Übertragung von Genen von einer Art auf eine andere. Zu seiner Überraschung fand Perris Team keine Hinweise auf einen solchen Genaustausch zwischen Schattenwölfen und anderen nordamerikanischen hundeartigen Raubtieren. Introgression kann jedoch Vorteile bei der Anpassung an veränderte Umweltbedingungen bieten. So haben Wölfe dadurch nachweislich Gene erworben, die Fellfarbe, Sauerstoffverbrauch und Immunfunktionen beeinflussen. Dabei könnten die immunologischen Effekte entscheidend gewesen sein: Während der letzten Eiszeit wanderten zahlreiche Tierarten über die Beringlandbrücke zwischen Asien und Nordamerika hin und her. Dadurch trafen angestammte Spezies auf neue Infektionskrankheiten – mit verheerenden Auswirkungen auf Populationen, die keine natürliche Immunität gegen die unbekannten Erreger besaßen. Wie die Forscher um Perri spekulieren, könnten Infektionen zum Aussterben der »schrecklichen Hunde« beigetragen haben, während die durch Kreuzung erworbene zusätzliche Immunstärke den Wölfen mehr Widerstandskraft verlieh.

Auf den Zahn gefühlt

In der Paläontologie ergeben sich große Fortschritte nicht nur aus der Entdeckung neuer Fossilien, sondern auch aus der Anwendung moderner Methoden auf längst gefundene Stücke. Ein Feldforscher wird den wahren Wert seiner Bemühungen zu seinen Lebzeiten vielleicht nie erfahren. Welcher Paläontologe des 19. Jahrhunderts hätte geahnt, dass ein einziger, vor Jahrhunderten ausgegrabener Knochen das gesamte Erbgut einer ausgestorbenen Art enthalten könnte?

Anhand eines lange eingefrorenen Zahns lässt sich die Hybridisierung zwischen verschiedenen Arten nachweisen

Heute kann selbst ein einzelner Zahn einen bislang unvorstellbaren Einblick in die Evolutionsgeschichte gewähren. Drei im Jahr 2021 untersuchte Mammutzähne liefern hierfür ein perfektes Beispiel. Ein Team unter der Leitung von Tom van der Valk vom Centre for Paleogenetics in Stockholm hatte fossile DNA aus Mammutzähnen extrahiert, die aus dem sibirischen Permafrostboden stammten. Die abgenutzten Zähne, nach den Fundorten Adytscha, Tschukotschja und Krestowka benannt, waren zwischen 700 000 und 1,2 Millionen Jahre alt. Wie ein Vergleich der Genome der sibirischen Fossilien mit denen anderer Mammuts ergab, handelte es sich um verschiedene Arten: Die Zähne von Adytscha und Tschukotschja stammten von Tieren, die Vorfahren des Wollhaarmammuts (Mammuthus primigenius) waren, während das Exemplar von Krestowka zu einer bisher unbekannten Mammutspezies gehörte. Überraschenderweise ergaben weitere Analysen, dass das aus den La Brea Tar Pits bekannte Präriemammut (Mammuthus columbi) durch Kreuzung zwischen Wollhaarmammuts und ebenjener geheimnisvollen Krestowka-Spezies entstand. Es ist bemerkenswert, wie sich anhand eines lange eingefrorenen Zahns die Hybridisierung zwischen verschiedenen Arten nachweisen lässt.

Mehrere Teams durchforsten inzwischen die Genome von Mammuts, um Hinweise auf Populationsengpässe, Haarfarbe, Temperaturregulierung oder sogar auf die Größe der Ohren zu finden. Andere wiederum untersuchen fossile DNA vielfältiger Lebensformen, von Planktonspezies bis hin zum Menschen. In dem Maß, wie die Wissenschaft die Geheimnisse der Vergangenheit lüftet, kann sich die Menschheit besser auf Veränderungen der Zukunft vorbereiten. Und die stets raffinierter werdenden Methoden sowie neu auftauchende Fossilien motivieren uns Paläontologen immer wieder bei unserer alltäglichen Arbeit im Feld und im molekularbiologischen Labor.

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