Schlichting!: Selbstorganisierte Gebilde auf dem Wasser

Wenn im Frühjahr die Blütenblätter des Apfelbaums in den benachbarten Teich fallen, bleiben sie nicht dort liegen, wo sie auftreffen. Vielmehr tun sie sich merkwürdigerweise über kurz oder lang zu größeren Gebilden zusammen oder lagern sich an andere Objekte an. Es gibt aber auch Treibgut, von dem sie abgestoßen werden – das sich selbst jedoch gegenseitig anzieht. Wie sich Dinge auf der Wasseroberfläche begegnen, hängt entscheidend davon ab, wie genau sie das Wasser jeweils verbiegen.
Wenn ein Gegenstand die Grenzschicht so verformt, dass sich das Wasser an ihm hochwölbt, spricht man von einem konkaven Meniskus. Andernfalls, wenn er das Wasser herunterdrückt, liegt ein konvexer Meniskus vor. Dabei zeigt sich, dass sich Objekte mit gleichem Meniskus anziehen und solche mit ungleichem abstoßen.
Die Details dieser Wechselwirkungen zwischen den kleinen, schwimmenden Gebilden und der Wasseroberfläche lassen sich in einem Gefäß genauer untersuchen. Dazu eignen sich kleine, leichte Gegenstände. Setzt man beispielsweise einige Styroporkügelchen in ein Glas mit Wasser, umgeben sie sich mit einem konkaven Meniskus. Sie ziehen sich gegenseitig an. Manche driften auch zum Rand, denn dort hat sich wegen der Benetzbarkeit von Glas ebenfalls ein konkaver Meniskus ausgebildet.
Wenn man von ein paar dynamischen Details einmal absieht, lässt sich das Verhalten aus energetischer Sicht leicht beschreiben. Entscheidend ist dabei das fundamentale Prinzip, dass bei allen von selbst ablaufenden Vorgängen möglichst viel Energie an die Umgebung abgegeben wird. Zur Bildung der Grenzfläche zwischen den Styroporkügelchen und der Luft ist wesentlich mehr Grenzflächenenergie nötig als zwischen den Kügelchen und dem Wasser. Deswegen steigt dieses an ihnen hoch – so weit, bis der Energiegewinn gleich der dazu erforderlichen Höhenenergie ist. Das äußert sich in einem konkaven Meniskus, der die Styroporkügelchen umgibt. Kommen sich zwei von ihnen auf dem Wasser näher, so ziehen sie sich an. Die Vereinigung vergrößert die gemeinsame Benetzungsfläche, und es kann zusätzlich Energie an die Umgebung gehen.
Setzt man statt eines Kügelchens eine Heftzwecke kopfüber auf die Wasseroberfläche, so sinkt sie wegen ihrer größeren Dichte ein. Wenn man es geschickt anstellt, geht sie aber nicht unter, sondern dellt das Wasser nur ein. Die zusätzliche Grenzflächenenergie zwischen Wasser und Luft gleicht die Höhenenergie aus, die dabei frei wird. Die Heftzwecke wird von einem konvexen Meniskus umgeben. Auch zwei driftende Heftzwecken ziehen sich gegenseitig an. Denn wenn sich zwei Menisken vereinigen, nimmt die Wasseroberfläche weniger stark zu als bei getrennten Heftzwecken, so dass Grenzflächenenergie abgegeben werden kann.
Was passiert, wenn sich eine Styroporkugel, die auf ihrem konkaven Meniskus thront, einer Heftzwecke nähert, die in ihrer konvexen Vertiefung liegt? Bei einer Annäherung wüchse die Summe der Grenzflächen der beiden Menisken – und damit die Grenzflächenenergie. Deswegen stoßen sie sich gegenseitig ab. Setzt man eine Heftzwecke in die Nähe einer Styroporkugel, so streben beide umso heftiger auseinander, je näher sie einander kommen. Entscheidend für die Abstoßung oder Anziehung auf dem Wasser driftender Objekte ist also, ob beim Zusammenfinden die Wasseroberfläche größer oder kleiner wird.
Schwimmende Multipole
Wie driftende Körper die Wasseroberfläche verändern und wie sie sich zueinander verhalten, hängt aber nicht nur von ihrer Dichte ab. Sofern die Teilchen überhaupt schwimmen, entscheidet auch ihre Form und damit der genaue Verlauf des Meniskus über Anziehung und Abstoßung.
Um das nachzuvollziehen, kann man kurze Enden von Geschenkband (Ringelband und ähnliches) auf Wasser legen. Das Geschenkband ist normalerweise schon wegen seiner engen Wicklung leicht gekrümmt. Schneidet man das Band in zwei bis drei Zentimeter lange Stücke und setzt diese vorsichtig wie Schiffchen auf die Wasseroberfläche, macht man interessante Beobachtungen.
Die Schiffchen ziehen sich an, wenn man jeweils Bug und Heck annähert. Auf diese Weise lassen sich ganze Ketten bilden. Sie haften so stark aneinander, dass man einen längeren Schiffsverband über die Wasseroberfläche ziehen kann.
Aber die Bandstücke haften nicht nur in Längsrichtung zusammen, sondern auch parallel orientiert. Dann legen sie sich Seite an Seite. Lediglich dann, wenn sie senkrecht zueinander ausgerichtet werden, stoßen sie sich ab und begeben sich sofort in eine anziehende Position.
»Diese gegenseitige Anziehung beschleunigte natürlicher Weise die wundervolle Concentration«Christoph Martin Wieland, deutscher Dichter
Anziehung und Abstoßung erinnern an das Kräfteverhalten elektrischer Ladungen, allerdings mit dem Unterschied, dass sich hier gleichnamige Pole anziehen und ungleichnamige abstoßen. Während die Styroporkügelchen und Heftzwecken gewissermaßen entgegengesetzt geladene Monopole sind, verhalten sich die Schiffchen wie Quadrupole. An den Enden wölbt sich das Wasser nach oben und zieht das Schiffchen ein wenig ins Wasser hinein. An den Seiten wird die Oberfläche hingegen konvex eingedellt. Damit hat man einander gegenüberliegende, paarweise entgegengesetzte Pole. Entsprechende Kräfte wirken auf benachbarte Schwimmkörper.
Positioniert man die Schiffchen kopfüber auf der Wasseroberfläche, tauchen die beiden Enden ein wenig ins Wasser ein und bilden dabei konvexe Vertiefungen aus. Konkave Aufwölbungen entstehen nun an den Seiten. Insgesamt hat man es abermals mit einem Quadrupol zu tun, nur dass die Polaritäten vertauscht sind.
Wenn man beide Quadrupoltypen auf dem Wasser in Wechselwirkung bringt, kann man beobachten, wie sich komplexe Strukturen herausbilden. Über solche kurzweiligen Spielereien hinaus beschäftigen sich auch ernst zu nehmende wissenschaftliche Untersuchungen mit ähnlichen Phänomenen. Dabei geht es vor allem darum, solche Eigenschaften der Selbstorganisation auszunutzen, um das Verhalten kleinster schwimmender Teilchen zu kontrollieren.
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