Warkus’ Welt: Was uns zu Grantlern macht

An einem lauen, frühen Samstagabend im Sommer 2023 hatte ich zufällig eine Stunde Freizeit in einer hübschen kleinen Stadt. Sie war wie leer gefegt. Vier, fünf jüngere Leute saßen auf Bänken in der Fußgängerzone und hörten nebenbei Musik. Sonst war niemand unterwegs.
Die restlichen zirka 15 000 Einwohner müssen aber irgendwo gewesen sein. Lassen wir einmal all jene beiseite, die gut gelaunt daheim saßen, weil sie zum Beispiel netten Besuch hatten oder mit der Familie Monopoly spielten. Dann bleiben noch genug übrig, die zwar freiwillig zu Hause blieben, mit dieser Situation aber nicht allzu glücklich waren. Unterstellen wir also einmal – zumindest als Gedankenexperiment –, dass viele Leute unzufrieden damit sind, wenn sie abends allein auf ihrem Sofa sitzen.
Nun könnte man so eine Situation relativ einfach durchbrechen, indem man zum Beispiel durch den Park spaziert oder Freunde fragt, ob sie Lust haben, ein Eis essen zu gehen. Sie kennen aber wahrscheinlich genauso wie ich das Phänomen, dass manche Menschen sich sozusagen in ihrer Unzufriedenheit einrichten. Sie scheinen Gefallen daran zu finden, dass ihnen nichts gefällt. Das Phänomen kennt umgangssprachliche Bezeichnungen wie »Grantler«, »miesepetrig« oder »griesgrämig«; mit Figuren wie Oskar aus der Sesamstraße oder Bernd, dem Brot, hat es Eingang in die Popkultur gefunden.
Dieses Grantlertum ist bei näherem Hinsehen philosophisch interessant. Man kann sich fragen, wie es überhaupt funktioniert. Nimmt man an, dass Menschen gemeinhin das Angenehme dem Unangenehmen vorziehen – Psychologen sprechen vom Grundbedürfnis der Unlustminimierung und der Lustmaximierung –, kann es doch nicht sein, dass jemand sich absichtlich, regelmäßig und dauerhaft für unangenehme Aktivitäten entscheidet. Es ist doch paradox, Spaß daran zu haben, keinen Spaß zu haben?
Eine historisch beliebte Erklärung ist, dass solche Menschen durch äußere Einwirkung eine Art Deformation erfahren haben, die sie unfähig macht, fröhlich zu sein und positive Empfindungen zu haben. Im 19. Jahrhundert galten Strafgefangene oder Menschen, die in ihrer Kindheit große Ungerechtigkeiten erlebt hatten, als typisch für »Verbitterte«. Alle Energie wird in Nörgeln, Unmutsäußerungen aller Art, bestenfalls noch bitteren Humor und Sarkasmus geleitet.
Zudem ist das Phänomen, über das wir hier sprechen, kein rein individuelles. Ich stelle mir unsere hypothetischen grantigen Sofasitzer tendenziell als Menschen vor, die eine Gemeinsamkeit haben und die voneinander wissen. Sie pflegen ihre verbitterte Einstellung also geradezu in der Gemeinschaft. Der Soziologe Heinz Bude von der Universität Kassel hat vor knapp zehn Jahren den Ausdruck »Verbitterungsmilieu« geprägt. Zu den prägenden Erfahrungen seiner Repräsentanten gehöre es, im Leben hinter den eigenen Möglichkeiten zurückgeblieben zu sein. Damit knüpft er an einen philosophischen Diskurs des 19. Jahrhunderts an, dessen Schlüsselbegriff das Ressentiment ist.
Manche Menschen scheinen Gefallen daran zu finden, dass ihnen nichts gefällt
Der Philosoph Max Scheler beschreibt es in einer Schrift von 1912 als »seelische Selbstvergiftung«, die durch die ständige Unterdrückung bestimmter Gefühlsäußerungen, insbesondere von Rachegefühlen, entstehe. Er schließt dabei an seinen berühmten Kollegen Friedrich Nietzsche an, der einer der ersten großen Theoretiker des Ressentiments war. Scheler schildert, dass das Ressentiment »eine ganz ungegründet scheinende und scheinbar regellos hervorbrechende, plötzliche haßerfüllte Ablehnung« produziert – etwas, mit dem jeder Nutzer heutiger sozialer Netzwerke gut vertraut sein dürfte. In sich hineingefressene Ohnmachtsgefühle, unartikulierte Rachegelüste bringen also den verbitterten Charakter hervor.
Bei Nietzsche und Scheler ebenso wie bei späteren Theoretikern wie etwa Max Horkheimer und Theodor W. Adorno werden letztlich grundlegende gesellschaftliche Verhältnisse für die Produktion von Ressentiments verantwortlich gemacht. Die daraus folgenden Einschätzungen und Diagnosen sind ganz unterschiedlich – so sieht Nietzsche die christliche Moral mehr oder minder als ein Produkt des Ressentiments Unterdrückter (»Sklavenmoral«), während Scheler gerade eine Art christliche Solidarität als das Gegenteil von Ressentiment betrachtet. Eine große Rolle spielt der Begriff des Ressentiments bei modernen Theorien des Antisemitismus, die davon ausgehen, dass dieser maßgeblich dadurch zu Stande kommt, dass Kleinbürger ihr Ressentiment, ohne sich dessen bewusst zu sein, auf Juden oder andere als manipulative Eliten konzipierte Gruppen lenken.
Man kann sich gut eine gesamtgesellschaftliche Dimension des eingangs geschilderten Szenarios vorstellen. Vielleicht rationalisieren die Verbitterten ihr Zuhausebleiben damit, in der Fußgängerzone seien ja eh »nur Ausländer«; es sei ohnehin alles viel zu teuer; wenn »alles anders wäre«, hätten sie mehr Spaß im Leben … Je nachdem, wie die wirtschaftlichen und geschichtlichen Rahmenbedingungen in der betreffenden Region aussehen und wo wir politisch stehen, können wir verschiedene Thesen darüber aufstellen, was schiefgelaufen sein könnte. Mir liegt es fern, engagiert eine Deutung meines (ohnehin auf vielen Hypothesen beruhenden) Szenarios zu vertreten. Wichtig scheint mir aber die Erkenntnis: Es gibt offensichtlich enge Verbindungen zwischen individueller Unzufriedenheit und sozialen Phänomenen, die nicht rein ökonomisch zu erklären sind; der Begriff des Ressentiments ist ein Werkzeug, um solche Verbindungen zu analysieren.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben