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Positive Einsamkeit: Die Vorteile des Alleinseins

Einsamkeit macht krank. Alleinsein kann aber auch bereichern – wenn man es als Chance sieht und die Zeit zur Selbstreflexion nutzt. Eine Anregung zum Umdenken.
Eine Person in einer roten Jacke steht inmitten einer glatten Wasseroberfläche, auf der sich der Himmel mit rosa und blauen Wolken spiegelt. Der Horizont ist in der Ferne sichtbar, während die Wolken den Himmel dramatisch gestalten. Es handelt sich hier um die überfluteten Salzebenen "Bonneville Salt Flats" in Utah, USA.
Allein in der Natur zu sein, kann Gefühle der Ruhe und Besinnung, aber auch der Einsamkeit wecken.

Fachleute schlagen Alarm, weil die Menschen in der westlichen Welt immer mehr Zeit allein verbringen. Tatsächlich sind wir heute mehr allein als je zuvor, wie Statistiken belegen. Wir bleiben lieber daheim, als aus dem Haus zu gehen. Wir gehen allein essen oder auf Reisen. Und die Zahl der Alleinlebenden hat sich in einigen Industrienationen innerhalb eines halben Jahrhunderts sogar fast verdoppelt.

Kein Wunder also, dass der Direktor des öffentlichen Gesundheitsdienstes der USA von einer Epidemie der Einsamkeit spricht. Das Magazin »The Atlantic« rief Anfang 2025 in den USA sogar das »antisoziale Jahrhundert« aus. In der Tat handelt es sich bei Einsamkeit und Isolation um ernst zu nehmende soziale Probleme – unter anderem, weil sie mit Depressionen und einer verkürzten Lebenserwartung zusammenhängen.

Allerdings hat Alleinsein noch eine ganz andere, gesunde Seite. Manche Menschen wollen allein sein, weil sie das mit Wohlbefinden und nicht mit Einsamkeit verbinden. Forschende bezeichnen das Phänomen als »positive Einsamkeit«(der englische Begriff »solitude« ist wertneutraler und steht eher für Alleinsein, ohne die implizit eher negative Gefühlslage im Begriff »Einsamkeit«, Anm. d. Red.).

Als Psychologin habe ich in den vergangenen zehn Jahren untersucht, warum Menschen gerne allein sind. Dabei habe ich selbst viel Zeit allein verbracht, so dass ich mit den Freuden des Alleinseins bestens vertraut bin. Meine Erkenntnisse decken sich mit denen von vielen anderen, die für das selbstbestimmte Alleinsein eine lange Liste von Vorteilen dokumentiert haben. Es ermöglicht uns zum Beispiel, die Akkus wieder aufzuladen und persönlich zu wachsen. Wenn wir allein sind, haben wir Zeit, uns mit unseren Gefühlen und unserer Kreativität zu verbinden.

Daher verstehe ich, dass viele Menschen gerne allein leben, sofern es ihre finanzielle Situation zulässt. Fragt man sie, warum sie lieber allein essen gehen, sagen sie: »Ich will mehr Zeit für mich haben.« Es überrascht mich auch nicht, dass eine Umfrage 2024 ergab, dass 56 Prozent der US-Bürgerinnen und -Bürger es wichtig finden, Zeit für sich zu haben, um psychisch gesund zu bleiben. Oder dass die amerikanische Warenhauskette Costco jetzt so genannte »Solitude Sheds« vertreibt, zu Deutsch »Einsamkeitshütten«, eine Art Gartenhäuschen, in dem man etwas Ruhe finden kann.

Offensichtlich teilen derzeit viele in der amerikanischen Gesellschaft den Wunsch, mehr allein zu sein. Doch weshalb überwiegen die Warnungen vor sozialer Isolation? Ich vermute, dass das mit einer kollektiven Angst vor dem Alleinsein zu tun hat.

Das Stigma der Einsamkeit

Diese Angst basiert zum großen Teil darauf, dass Alleinsein in unserer Kultur als Defizit und der Wunsch danach als unnatürlich und ungesund angesehen wird. Alleinsein wird eher bemitleidet und gefürchtet als geschätzt und gefördert. Das ist nicht nur meine eigene Beobachtung. Eine im Februar 2025 veröffentlichte Studie ergab, dass in US-amerikanischen Schlagzeilen »Alleinsein« zehnmal häufiger negativ als positiv dargestellt wird. Diese Voreingenommenheit prägt die Sichtweisen der Menschen. Studien zeigen, dass Erwachsene und Kinder gleichermaßen eindeutig darüber urteilen, wann es für ihr Umfeld akzeptabel ist, allein zu sein, und wann nicht.

Das erscheint auch sinnvoll, da in der amerikanischen Kultur Extraversion als Ideal gilt – ja sogar als normal. Zu den typischen Merkmalen von Extravertierten zählen Kontaktfreude und Durchsetzungsvermögen. Sie gelten als besser gelaunt und abenteuerlustig, im Gegensatz zu den zurückhaltenderen und risikoscheueren Introvertierten. Auch wenn nicht alle Menschen in den USA extravertiert sind, versuchen die meisten doch, diese Eigenschaft zu kultivieren, und werden dafür von ihrem sozialen und beruflichen Umfeld belohnt. In einer solchen Kultur ist Alleinsein mit einem Stigma behaftet.

Doch der Wunsch nach Alleinsein ist nicht pathologisch und nicht nur bei Introvertierten zu finden. Er bedeutet auch nicht automatisch, dass man sozial isoliert ist und ein einsames Leben führt. Tatsächlich stützen die Daten die aktuellen Warnungen vor einer Epidemie der Einsamkeit nicht vollständig, wie sowohl Forschende als auch die Medien inzwischen einräumen. Mit anderen Worten: Obwohl Menschen in Industrienationen heute tatsächlich mehr Zeit allein verbringen als frühere Generationen, ist unklar, ob wir uns tatsächlich einsamer fühlen. Und entgegen unseren Sorgen um sozial isolierte Ältere zeigen Untersuchungen, dass diese allein glücklicher sind, als das Narrativ der einsamen Alten uns glauben lässt.

Soziale Medien stören die Ruhe

Die Vorteile des Alleinseins zeigen sich dann, wenn wir uns bewusst die Zeit und den Raum geben, mit uns selbst in Kontakt zu treten – nicht aber, wenn wir uns dann mit unseren elektronischen Geräten beschäftigen. Meine Forschung hat ergeben, dass wir weniger davon profitieren, wenn wir beim Alleinsein auf Bildschirme starren und durch soziale Medien scrollen. Denn in diesem Fall wäre meiner Meinung nach die kollektive Angst berechtigt – vor allem wenn es um junge Erwachsene geht, die reale Begegnungen durch virtuelle Kontakte ersetzen und darunter leiden.

Soziale Medien sind per Definition sozial; das steckt bereits im Namen. Wir können also nicht wirklich allein sein, wenn wir mit ihnen Zeit verbringen. Es ist daher auch nicht die Art von »Zeit für mich«, nach der sich viele Menschen sehnen und die ihnen guttut. Positive Einsamkeit bedeutet, die Aufmerksamkeit nach innen zu lenken. Es ist eine Phase, in der wir entschleunigen und nachdenken können, in der wir das machen, was uns gefällt, und nicht, was anderen gefällt. Eine Zeit, in der wir emotional für uns selbst da sind, nicht für andere. Wenn wir auf diese Weise allein sind, fühlen wir uns jung und ausgeruht, wir gewinnen an Klarheit und emotionalem Gleichgewicht, wir fühlen uns zugleich freier und mehr mit uns selbst verbunden.

Sind wir jedoch süchtig nach Ablenkung, ist es schwieriger, einen Gang zurückzuschalten. Wenn wir es gewohnt sind, auf einen Bildschirm zu starren, kann es beängstigend sein, stattdessen in uns selbst hineinzuschauen. Und wenn wir das Alleinsein nicht als normales und gesundes menschliches Bedürfnis ansehen, dann verschwenden wir es damit, uns schuldig, sonderbar oder egoistisch zu fühlen.

Anders über das Alleinsein denken

Dass viele US-Bürgerinnen und -Bürger sich dafür entscheiden, mehr Zeit allein zu verbringen, ist eine Herausforderung für unsere Kultur. Die Stigmatisierung des Alleinseins lässt sich nur schwer ändern. Und doch deutet eine kleine, aber wachsende Anzahl an Befunden darauf hin, dass es möglich und effektiv ist, anders über das Alleinsein zu denken. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass es hilft, Alleinsein als eine positive Erfahrung zu betrachten und nicht als Einsamkeit. Das kann selbst bei sehr einsamen Menschen das negative Empfinden lindern. Wer die Zeit allein als »erfüllend« und nicht als »leer« ansieht, erlebt sie auch eher als Bereicherung und kann sie nutzen – zur Selbstreflexion oder zur spirituellen Entwicklung. Selbst eine Umbenennung in »Zeit für mich« führt dazu, dass Menschen das Alleinsein positiver bewerten. Und wahrscheinlich wirkt sich das auch darauf aus, wie ihre Freunde und Familie darüber urteilen.

Es stimmt zwar, dass Alleinsein zu sozialer Isolation führen kann – vor allem dann, wenn wir uns keiner Gemeinschaft zugehörig fühlen und keine engen Beziehungen haben, zu denen wir zurückkehren können. Aber es ist auch richtig, dass zu viel soziale Interaktion anstrengend ist und diese soziale Überlastung der Qualität von Beziehungen schaden kann. Im jüngsten Trend zum Alleinsein könnte sich teils der Wunsch nach mehr Balance spiegeln, angesichts eines zu hektischen, zu durchgeplanten, zu sozialen Alltags. Denn so wie wir für unser Wohlbefinden Beziehungen zu anderen Menschen brauchen, brauchen wir auch eine Beziehung zu uns selbst.

  • Quellen

Rodriguez, M. et al.: How people think about being alone shapes their experience of loneliness. Nature Communications 16, 2025

Ross, M.Q., Campbell, S.W.: The tradeoff of solitude? Restoration and relatedness across shades of solitude. PLOS ONE 19, e0311738, 2024

Thomas, V., Broussard, S.: Full or empty: Examining perceptions and implications of solitude as a psychological space. Journal of Adolescent Research 2023

Thomas, V. et al.: Alone and online: Understanding the relationships between social media, solitude, and psychological adjustment. Psychology of Popular Media 10, 2021

Weinstein, N. et al.: What time alone offers: Narratives of solitude from adolescence to older adulthood. Frontiers in Psychology 12, 2021

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