Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die Welt wird immer komplexer, und der Grund dafür ist die Zeit

Ob Welthandel, neue Technologien oder naturwissenschaftliche Forschung: Alles scheint mit der Zeit komplexer zu werden. Früher gab es noch Universalgelehrte – Menschen, die sich in verschiedenen Disziplinen hervorragend auskannten und wichtige Beiträge lieferten. Heute ist es inzwischen schon fast selten, dass eine Person in unterschiedlichen Bereichen eines einzigen Fachs brilliert.
Das soll jetzt kein »Früher war alles besser«-Rant werden. Es ist bloß eine nüchterne Feststellung: Früher war die Welt einfacher. Und das stimmt auch – zumindest aus mathematischer Sicht. Das erkannte schon der Physiker und Philosoph Ludwig Boltzmann im Jahr 1872.
Der Universalgelehrte (ich finde, das kann man bei der Expertise in zwei Fächern wie Philosophie und Physik durchaus sagen) beschäftigte sich unter anderem mit dem Verhalten von Gasen und Flüssigkeiten. Zu dieser Zeit war gerade der Nachweis erbracht worden, dass alles auf der Welt aus etlichen winzigen Bausteinen besteht – den Atomen und Molekülen.
Möchte man beschreiben, wie sich Flüssigkeiten und Gase verhalten, müsste man also streng genommen jedes einzelne Teilchen verfolgen. Dass das nicht machbar ist, wusste auch Boltzmann. Deshalb entwickelte er eine Gleichung, welche die Bewegung der Partikel im Mittel beschreibt. Doch dabei tat sich ein Mysterium auf: Die einzelnen Atome und Moleküle scheinen völlig anderen Gesetzmäßigkeiten zu folgen als ihr Kollektiv. Wie kann das sein?
Warum vergeht die Zeit in nur eine Richtung?
Stellen Sie sich vor, ich zeige Ihnen ein kurzes Video von Kugeln, die mehrmals zusammenstoßen und sich entlang eines Billardtischs (ohne Löcher) bewegen. Und jetzt frage ich Sie: Habe ich das Video vorwärts oder rückwärts abgespielt? Falls das Video kurz genug ist, damit sich die Reibung nicht bemerkbar macht, lässt sich die Frage unmöglich beantworten. Die newtonschen Bewegungsgleichungen, welche die elastischen Stöße der Billardkugeln beschreiben, hängen nicht von der Zeitrichtung ab. Sie liefern vorwärts wie rückwärts dasselbe Ergebnis.
Gleiches gilt für die Partikel, aus denen sich Gase oder Flüssigkeiten zusammensetzen. Im 19. Jahrhundert nahm die Fachwelt an, dass diese sich wie kleine Kugeln durch den leeren Raum bewegen, immer mal wieder gegeneinanderstoßen und den newtonschen Bewegungsgesetzen folgen, so wie die zuvor genannten Billardkugeln. Heute wissen wir, dass das so nicht stimmt. Atome und Moleküle gehorchen der Quantenmechanik, die wesentlich komplexer ist. Doch das tut in diesem Fall nichts zur Sache: Denn auch die Quantenmechanik ist invariant unter Zeitumkehr. Auch hier spielt es keine Rolle, ob man einen Prozess vorwärts oder rückwärts betrachtet.
Im Kollektiv sieht das hingegen ganz anders aus. Zoomt man aus dieser mikroskopischen Darstellung heraus, spielt die Zeitrichtung eine entscheidende Rolle. Dazu müssen Sie sich nur vorstellen, wie Milch in Kaffee gekippt wird. Die unterschiedlichen Substanzen vermengen sich mit der Zeit zu einer homogenen Flüssigkeit. Und der Prozess ist nicht mehr umkehrbar: Ist die Milch einmal im Kaffee gelandet, lässt sie sich nicht mehr entfernen. Ein Video, bei dem sich die hellbraune Flüssigkeit in einen weißen und dunkelbraunen Anteil trennt, wurde ganz klar rückwärts abgespielt – keine Diskussion nötig. (Das gilt zumindest, wenn man annimmt, dass Milch und Kaffee die gleiche Dichte haben.)
Dieser grundlegende Unterschied zwischen der Mikro- und der Makrowelt trieb Boltzmann um. Wie kann es sein, dass zahllose Gleichungen, welche die Bewegungen einzelner Partikel beschreiben und invariant unter Zeitumkehr sind, ein irreversibles Verhalten hervorrufen? Wieso lässt sich jeder Stoß zwischen einzelnen Teilchen theoretisch umkehren, die Milch aber nicht mehr vom Kaffee trennen?
Intuitiv lässt sich das Phänomen erklären. Die Teilchen innerhalb eines Gases oder einer Flüssigkeit prallen immer wieder zusammen. So werden schnelle Teilchen gebremst, während langsame Teilchen beschleunigt werden. Wartet man lange genug ab, stellt sich irgendwann ein Gleichgewicht ein, und die Partikel bewegen sich im Mittel alle gleich schnell. Es kann einzelne Ausreißer geben, aber im Durchschnitt haben die Teilchen in etwa die gleiche Geschwindigkeit und sind im Raum gleichverteilt.
Was bedeutet eigentlich »komplex«?
Boltzmann konnte Teile dieses Verhaltens durch eine Gleichung ausdrücken, die inzwischen nach ihm benannt ist. Die Boltzmann-Gleichung gibt an, wie sich Geschwindigkeits- und Positionsverteilung der Teilchen abhängig von Ort und Zeit verändern. Hierbei führte er auch einen »Kollisionsoperator« ein, der – je nach Bedingungen wie Dichte oder Temperatur – die Auswirkungen der elastischen Stöße auf die Teilchen berücksichtigt.
Die Boltzmann-Gleichung ist eine Differentialgleichung. Das heißt, sie enthält unter anderem Ableitungen. Solche Gleichungen sind in der Regel schwer zu lösen – oft sind sie überhaupt nicht exakt lösbar. Trotzdem schaffte es Boltzmann, anhand dieser Gleichung zu beweisen, dass unsere Welt immer komplexer wird.
Dafür musste er erst einmal definieren, was unter dem Begriff »komplex« zu verstehen ist. Ein homogenes Milch-Kaffee-Gemisch wirkt zunächst nicht sonderlich kompliziert. Doch tatsächlich steckt aus mathematischer und physikalischer Sicht darin extrem viel Komplexität. Es gibt unzählige verschiedene Möglichkeiten, wie sich die mikroskopischen Teilchen darin bewegen und verhalten könnten, und jede von ihnen würde exakt dasselbe makroskopische Ergebnis hervorbringen. Das heißt: Auch wenn die Temperatur, die Dichte, das Volumen und das Mischverhältnis des Milchkaffees genau bekannt sind, lässt sich daraus nicht eindeutig ableiten, wie die Moleküle angeordnet sind und welche Geschwindigkeit sie jeweils haben. Viele verschiedene mikroskopische Zustände führen zum gleichen Endergebnis.
Diese Komplexität bezeichnete Boltzmann als »Entropie«. Je höher die Entropie eines Systems, desto mehr Möglichkeiten gibt es für seine mikroskopischen Bestandteile, ein- und dasselbe makroskopische Phänomen hervorzurufen. Wenn Milch und Kaffee noch getrennt sind, ist die Komplexität – und damit auch die Entropie – gering. Denn die Moleküle der Milch sind noch von denen des Kaffees separiert. Schüttet man die Flüssigkeiten zusammen, vermengen sie sich nach und nach immer mehr. Die Komplexität und die Entropie wächst mit der Zeit also stetig an. Sobald ein Gleichgewichtszustand erreicht ist, bleibt die Entropie konstant.
All das konnte Boltzmann nicht nur qualitativ beschreiben, sondern aus seiner Boltzmann-Gleichung mathematisch ableiten. Damit bewies er also hieb- und stichfest: Die Komplexität eines Systems nimmt auf dem Weg zum Gleichgewicht zu.
Das lässt sich auf unser Universum als Ganzes übertragen. Ganzheitlich betrachtet ist nichts im Kosmos im Gleichgewicht, nicht einmal das Universum selbst, das sich immer weiter ausdehnt. Das heißt, die Entropie – und damit die Komplexität – nimmt unentwegt und unaufhaltsam mit der Zeit zu. Und das treibt sogar die aktuelle mathematische Forschung an, wie ich zusammen mit meinen Kollegen Demian Nahuel Goos und Karolin Breitschädel im Podcast »Geschichten aus der Mathematik« erzähle. Kein Wunder also, dass man ab und zu mal den Überblick über manche Dinge verliert.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben