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Freistetters Formelwelt: Arbelos faszinieren die Menschheit seit Jahrtausenden

Kreise sind einfach, sollte man meinen. Der griechische Mathematiker Archimedes und sein Schustermesser sind da aber anderer Meinung.
Eine Gruppe von Menschen steht oder sitzt auf großen weißen Punkten, die in einem regelmäßigen Muster auf einem mintgrünen Hintergrund angeordnet sind. Die Personen sind in Schwarz-Weiß gehalten und scheinen in verschiedenen Posen zu verharren, einige balancieren, andere sitzen entspannt. Das Bild vermittelt ein Gefühl von Kreativität und Balance.
Obwohl Kreise schon seit Jahrtausenden untersucht werden, gibt es immer wieder neue Erkenntnisse über sie.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Ich habe mich kürzlich in der belgisch-niederländischen Grenzregion herumgetrieben (allerdings nur virtuell auf den entsprechenden Kartendiensten im Internet). Ich wollte mir eigentlich die Strecken von berühmten Frühjahrsklassiker-Radrennen ansehen, hab mich dann aber »verfahren«. Das war aber gar nicht schlimm, denn nördlich von Tilburg habe ich neben der Straße auf einmal ein seltsames geometrisches Gebilde entdeckt. Nach einer kurzen Recherche war klar: Hier hat jemand einen übergroßen »Arbelos« in die Landschaft von Brabant gestellt.

Diese geometrische Figur lässt sich so konstruieren: Man zeichnet eine gerade Linie zwischen zwei Punkte A und B und darüber einen Halbkreis. Jetzt wählt man entlang der Strecke einen Punkt C und zeichnet auch die Halbkreise mit den Durchmessern AC und CB ein. Schneidet man diese beiden Halbkreise aus dem ursprünglichen Halbreis heraus, bleibt eine sichelförmige Figur übrig, die Arbelos genannt wird. Sie soll schon von Archimedes vor mehr als 2000 Jahren beschrieben worden sein. Eine ihrer interessantesten Eigenschaften lautet:

FAr=FKr=π4(|AC||CB|)

Um diese Formel zu verstehen, müssen wir im Punkt C eine senkrechte Linie nach oben zeichnen, bis sie den Halbkreis über der Strecke AB im Punkt D schneidet. Die Fläche FKr des Kreises mit dem Durchmesser CD ist dann exakt so groß wie die Fläche FAr des Arbelos und kann durch die obige Formel berechnet werden.

Der griechische Name Arbelos bezeichnet übrigens ein Messer, das man damals in der Lederbearbeitung verwendet hat (und das auch heute noch tut). Die Klinge eines solchen Messers ist sichelförmig, wie die geometrische Figur, auch wenn die Ähnlichkeit zwischen beiden in Wahrheit nicht sonderlich groß ist.

Eine Schar von Kreisen

Die Beschäftigung mit dem Arbelos liefert jede Menge weitere faszinierende Phänomene. Zum Beispiel die »Zwillingskreise des Archimedes«. Dazu betrachten wir ein weiteres Mal die Senkrechte durch den Punkt C und zeichnen nun auf beiden Seiten dieser Linie je einen Kreis, der den äußeren Halbkreis und den jeweiligen inneren Halbkreis berührt. Beide Kreise haben dann immer denselben Radius und sind kongruent.

Ganz allgemein ist ein »archimedischer Kreis« jeder Kreis, der mit Hilfe des Arbelos konstruiert werden kann und der kongruent zu den Zwillingskreisen ist. Den ersten – oder den dritten, wenn man die Zwillingskreise als Nummer 1 und 2 zählt – archimedischen Kreis hat der US-Amerikaner Leon Bankhoff im Jahr 1954 entdeckt. Bankhoff war nicht nur Zahnarzt, sondern auch Mathematiker und hat 20 Jahre später noch eine weitere Möglichkeit entdeckt, um mit einem Arbelos einen archimedischen Kreis zu konstruieren. Mittlerweile sind ein paar Dutzend Möglichkeiten bekannt und immer wieder werden neue Konstruktionsvarianten veröffentlicht.

Arbelos | Anhand eines Arbelos lassen sich viele verschiedene kongruente Kreise konstruieren.

Auch der Arbelos selbst lässt sich variieren. 2012 hat der US-amerikanische Mathematiker Jonathan Sondow die Arbeit »The parbelos, a parabolic analog of the arbelos« veröffentlicht und erklärt darin, wie sich eine dem Arbelos analoge Figur konstruieren lässt, wenn man Parabeln statt Halbkreisen verwendet. Davon inspiriert hat der spanische Mathematiker Antonio M. Oller-Marcén kurz danach den »f-belos« beschrieben, bei dem beliebige Segmente von differenzierbaren Funktionen verwendet werden, um eine den Arbelos und Parabelos analoge Figur zu konstruieren.

Der Arbelos und seine geometrisch komplexeren Verwandten zeigen, wie die Faszination für Mathematik die Jahrtausende überbrückt. Das, was die Menschen in der Antike beschäftigt hat, ist heute immer noch genauso interessant. Die Mathematik inspiriert uns bis in die Gegenwart. Einen Beleg dafür kann man sich auf der N261 zwischen Tilburg und Waalwijk auf Höhe der Stadt Kaatsheuvel ansehen.

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