Gute Nacht - die Kolumne für besseren Schlaf: Ist Melatonin tatsächlich wirkungslos und gefährlich?

Irgendetwas fehlt dem Körper. Diesen Satz höre ich verdächtig häufig von Menschen in der Schlafberatung. Und seit sich in den Regalen der Drogerien Melatonin-Präperate aneinanderreihen, liegt für viele Menschen der Verdacht nahe: Fehlt das Melatonin? Und könnten einfache Tabletten gegen hartnäckige Schlaflosigkeit helfen?
Schauen wir uns zunächst an, wie Melatonin funktioniert. Ausgeschüttet wird es aus der Epiphyse, auch Zirbeldrüse genannt. Oder man nimmt es zusätzlich als Tablette ein, dann gelangt es im Zuge der Verdauung ins Blut. Das Melatonin kann die Blut-Hirn-Schranke passieren und wirkt im Gehirn auf Rezeptoren des suprachiasmatischen Nukleus. Diesen nennt man auch »Master Clock« des Körpers, den zentralen Zeitgeber.
Die Aktivierung der Rezeptoren durch das Melatonin bewirkt, dass der Körper zum Schlaf bereit wird. Die Körpertemperatur sinkt und die neuronale Aktivität geht zurück, man kommt zur Ruhe. Vereinfacht können wir sagen: Der 24-Stunden-Rhythmus des Körpers wird auf die gewünschte Schlafzeit eingestellt. Melatonin gilt deshalb nicht als Schlafmittel, sondern als Chronobiotikum – ein Wirkstoff, der an der inneren Uhr dreht.
Melatonin-Präparate stehen bei manchen Leuten im Ruf, gleichermaßen wirkungslos und gefährlich zu sein. Doch Forschungsergebnisse geben überwiegend Entwarnung. Bei verantwortungsvoller Anwendung dürfte das Melatonin einigen traditionellen Einschlaftipps überlegen sein – vor allem dem eher schädlichen Glas Wein am Abend.
Mythos 1: Es gibt keine Studien zu Melatonin
Oft heißt es, Melatonin sei wenig erforscht. Das stimmt nicht. Was stimmt: Sehr viele Forschungsarbeiten erfüllen die höchsten wissenschaftlichen Ansprüche nicht. Und es gibt eben auch jene Arbeiten, die den Gütekriterien randomisiert und placebokontrolliert gerecht werden. Die Effekte sind statistisch signifikant, aber klein – im Bereich weniger Minuten. So ergab im Jahr 2013 eine Metaanalyse von 19 hochwertigeren Forschungsprojekten mit insgesamt 1683 Teilnehmenden und Dosierungen von 0,1 bis 5 Milligramm Melatonin, dass Melatonin die Einschlafdauer von Menschen mit Schlafstörungen im Schnitt um sieben Minuten verkürzt, Spannweite ungefähr vier bis zehn Minuten. Auch schliefen die Menschen insgesamt etwa acht Minuten länger. Bei längeren Untersuchungen zeigten sich in der Regel größere Effekte als bei kürzeren.
Der Schlafforscher Alan Wade berichtete in einer Studie in »BMC Medicine« außerdem, dass messbare Effekte vor allem bei Menschen über 55 Jahren beobachtbar sind, bei denen die abendlichen Melatonin-Level zurückgehen. Die Fachleute verabreichten retardiertes Melatonin, also Präparate, die ihre Wirkung nach und nach entfalten. Diese gibt es in Drogerien bislang nicht, sondern nur verschreibungspflichtig in der Apotheke.
Eine jüngere Metaanalyse, veröffentlicht im Jahr 2022, trennte anhand von 24 Einzelstudien die Effekte auf Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche voneinander. Die südkoreanische Forschungsgruppe um die Pharmazie-Professorin Hae Sun Suh zeigt in »Sleep Medicine Reviews«, dass Melatonin bei Erwachsenen mit primärer Insomnie im Vergleich zu Placebos keine signifikante Veränderung bewirkte, wohl aber bei Kindern und Jugendlichen.
Kurzes Zwischenfazit: Die Ergebnisse bezüglich der Einschlafdauer sind für Erwachsene also nicht eindeutig. Es könnte einen Effekt geben, ob dieser einem Placebo überlegen ist, ist derzeit nicht klar – möglicherweise lautet die Antwort nein. Doch die Präparate bringen ein Versprechen mit sich, von dem eine ganz reale Wirkung ausgehen kann.
Die Präparate sind jedenfalls da und – unklarer Nutzen hin oder her – es gibt eine gewisse Nachfrage danach. Betroffene sind häufig verzweifelt und möchten Melatonin testen. Hier stellt sich dann vor allem die Frage: Ist der Stoff in der alltäglichen Anwendung sicher?
Mythos 2: Der Körper gewöhnt sich an das Melatonin
An dieser Stelle kommen die fehlenden Langzeitstudien ins Spiel. Zwar wurde die Melatonin-Gabe schon über längere Zeiträume getestet und für sicher befunden. Doch auch die Forschung weiß nicht, ob sich vielleicht später Effekte zeigen werden, die derzeit nicht vorhersehbar sind. Das bedeutet: Kurzfristig können wir Melatonin als wahrscheinlich sicher einstufen. Wer es langfristig nehmen möchte (sagen wir: länger als zwölf Monate), der experimentiert mit sich selbst.
Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass der Körper sich an die Melatonin-Tabletten gewöhnt. Das berichtet zum Beispiel der Psychiater Patrick Lemoine nach einer Studie mit 244 Patientinnen und Patienten (18 bis 80 Jahre alt) in »Therapeutics and Clinical Risk Management«. Die Testpersonen hatten Melatonin für sechs oder zwölf Monate bekommen. Auch ein Rebound-Effekt, bei dem sich die Insomnie nach Absetzen des Präparats verstärkt, war nicht zu beobachten. Im Gegenteil: Bei manchen hielt der gute Schlaf an.
Aus schlafberaterischer Sicht habe ich an Melatonin nichts auszusetzen. Vielleicht ändert sich etwas, vielleicht wird der Schlaf besser. Ob dies eine chemische oder eine psychische Ursache hat, lässt sich derzeit nicht sicher beantworten. Wir müssen aber davon ausgehen, dass es sich wahrscheinlich primär um einen psychischen Effekt handelt. Das ist erst einmal kein Problem, ich will aber davor warnen, es unkritisch dauerhaft einzusetzen.
Denn auch psychische Effekte haben ganz reale Folgen. Wer sich selbst davon überzeugt, nur mit einem Nahrungsergänzungsmittel gut einschlafen zu können, schafft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Vergisst man das Präparat, kann man womöglich einfach deswegen nicht einschlafen, weil man daran glaubt. Wie wir an der Studie von Lemoine sehen, wird dieser Effekt aber wahrscheinlich nicht alle Menschen treffen.
Langfristig sehr wertvoll kann umgekehrt auch die Erfahrung sein, überhaupt wieder schlafen zu können. Diese stellt sich ein, wenn das Melatonin als das eingesetzt wird, was es ist: als Chronobiotikum. Menschen mit empfindlichem Schlafrhythmus können es bewusst kurzfristig einnehmen, zum Beispiel vor Prüfungen oder wichtigen Terminen, nach der Zeitumstellung oder Reisen und Heimreisen in Richtung Osten.
Und dann setzen Sie es wieder ab. Sie haben gerade gelernt, dass Sie schlafen können, und das ist ein entscheidender Schritt raus aus dem Teufelskreis der Schlafstörung. Die Melatonin-Produktion in der Zirbeldrüse können Sie auch anders anregen, zum Beispiel, indem Sie abends erst heiß duschen und dann in ein kühles, dunkles Schlafzimmer gehen. Lassen Sie die Bildschirme aus und kommen Sie zur Ruhe. Am nächsten Morgen stehen Sie zeitig auf und gehen Sie nach draußen, Gesicht zur Sonne. Licht und Bewegung sind das sicherste und wirksamste Chronobiotikum, das Ihnen zur Verfügung steht. Gratis und ohne Nebenwirkungen.
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